Mit Gedichten innehalten, flanieren und ins Gespräch kommen. All das verbindet sich mit der Idee des „Lyrischen Gartens“ im Stadtpark von Osterode. Auch die benachbarte Stadthalle wurde zum poetischen Begegnungsort für Autorinnen und Autoren, um die BesucherInnen auf vielstimmige Pfade mit ihren Sprachbildern, Versen und Gedankensplittern vertraut zu machen. Auch deren spontane Gedichte und Haikus waren im lyrischen Garten gefragt, weil Initiatorin Renate Maria Riehemann ihn diesmal mit weiteren inspirierenden Zutaten versehen wollte. Tina Fibiger ist durch das poetische Gartenparadies flaniert.
„Lacht da der Mond / über ihn / diesen Tänzer / der bordsteinschwankend / versucht / Fuß zu fassen / Abzulegen / den Mantel der Nacht? “ fragt sich Renate Maria Riehemann in ihrem Gedicht „Grenzgänger“. Mit Blick auf den „lyrischen Garten“ im Stadtpark von Osterode und die Lesebühne in der benachbarten Stadthalle ließe sich mit dem Bild des bordsteinschwankenden Tänzers auch ein Leitmotiv mit dem lyrischen Treffunkt im Grünen verweben. Die Gedichte, die an diesem strahlend sonnigen Sonntag zwischen Büchertischen und Lesepulten kursieren, wollen natürlich aus dem Buchseitendunkel ans Licht und ihr Publikum berühren und bewegen. In diesem Sinne versteht sich auch das einladende Plakat am Eingang zur Stadthalle mit dem Hinweis auf die lokale und regionale DichterInnengemeinschaft „Lyrik lebt“ als Ermunterung.
Mit dem Titel „Im Nu“ hat Claudia Helena Dietrich ein Gedicht in ihrer aktuellen Sammlung „DaSelbst und EbenDort“ versehen, dass ebenfalls wie ein Leitmotiv für die poetische Stimmungslage anmutet und wie sie sich bei den kurzweiligen Lesungen und den anschließenden Gesprächen in der Parkkulisse immer wieder einstellt.
„Da ist es wieder / das Gezwitscher und Geraschel / aus dem Laubdach. /Die Wasseroberfläche kräuselt. Ein Windhauch streichelt sanft.“
Schon nach wenigen Stunden füllt sich die Gedichtbox an dem Stand für Spontanlyrik. Auch der Hinweis auf die beiden Haiku-Workshops erreicht nach kurzer Zeit bereits inspirierte BesucherInnen, die sich später an eine poetische Mutprobe mit wenigen Zeilen wagen. An einem weiteren Stand bekommen dann Postkarten und Bildmotive spontan gedichtete Bildunterschriften und Kommentare.
Über mehrere Jahre residierte der lyrische Garten in einer alten Villa mit viel Gartengrün, wie die Initiatorin berichtet. Mit dem Stadtpark und der benachbarten Stadthalle bekam Renate Maria Riehemann vor zwei Jahren einen zentralen Treffpunkt und kommunale Unterstützung für die poetische Flaniermeile, um wenig später den Verein „Lyrik lebt“ mitzubegründen, dessen Vorsitz sie übernahm. Mittlerweile beflügeln fast 30 Autorinnen und Autoren Osterode und die Harzregion mit ihren Gedichten. Aber mehr noch als offene Lesebühnen, Schreibwerkstätten und Workshops lädt der lyrische Garten zum Flanieren ein und zum Kennenlernen
Auch die Autorinnen und Autoren verstehen sich als neugieriges Publikum, sind auf eine spontane Resonanz gespannt auf biografische Fragen oder auf Fragen über alltägliche und besondere Schreibprozesse. Ebenso gern sind auch sie am Flanieren bei ihrer dichtenden Nachbarschaft, was bei ihnen an Motiven, Ideen und Fantasien mit inspirierender Wirkung kursiert. Die Vereinsmitglieder hatten sich darauf verständigt, dass sie die Lesebühne in der Stadthalle mehrheitlich den GastlyrikerInnen überlassen und so nicht nur Input von weiteren lyrischen Stimmen zu bekommen.
Nicht nur mehrstimmig, was poetische Formen in ihrer sprachlichen und stilistischen Vielfalt angeht, versteht sich der lyrische Garten für Riehemann und das poetische Vereinsbündnis, sondern auch interkulturell mehrsprachig. Von besonderen Entdeckungen schwärmt die Autorin, die sie beim gemeinsamen Lesefest machte. Zum Beispiel mit Max Druschinin aus Jekaterinburg, der1998 mit seinen Eltern nach Deutschland ausgewandert, um hier seine Gedichte auch mit den musikalischen Traditionen seiner Heimat einzufärben. Auf der Lesebühne nimmt Drschinin sein Publikum an die Hand, ihn auch gedanklich bei seinen Alltagsbeobachtungen zu begleiten, und beim Anblick eines alten Mannes innezuhalten.
“dass ein Fremder sie erweicht und für alleweil erreicht, / so dass Jener einst einmal beizeiten irgendwann vergisst; / was es heißt, wenn die Kunst den Geist ergreift - / das weiß er, der alte Mann und beschreibt mit seinen Worte / die verborgenen Pforten, durch die er schritt in seinen Tagen,“
Hellhörig und nachdenklich stimmt auch Nahed Al Essa ihr Publikum bei ihrem Debüt im lyrischen Garten, wenn sie ihre Fluchterfahrungen und die kriegerischen Erschütterungen in ihrer syrischen Heimat in poetischen Echos nachhallen lässt. Die freie Autorin und Übersetzerin berichtet von einer erschöpfenden Odyssee, die sie mit ihren Gedichten und Erzählungen erlebte, bis sie schließlich einen Verlag für ihr literarisches Debüt in Deutschland fand. Sie liest in Osterode aus dem druckfrischen Band „4222 Kilometer“, der erst vor wenigen Tagen erschien, über Fluchtwege, Erinnerungsstationen und Sehnsüchte.
„Jede Nacht packe ich meine zwei Sachen und ziehe um. Von Deutschland nehme ich meine Armbanduhr mit und Augentropfen. Ich warte, bis die Dunkelheit kommt. Dann schleiche ich über die Grenze wie ein Phantom und erwache in meiner Heimatstadt Damaskus“
Mit Songtexen erkunden Schülerinnen und Schüler des Tilmann-Riemenschneider-Gymnasiums das poetische Feld auf der Open-Air-Bühne im Stadtpark. Dort präsentieren auch Lara Robberts und Amanda Wurm, was sie in einer Schreibwerkstatt schöpferisch inspiriert hat. Auf NachwuchsdichterInnen und junge Talente setzt Renate Maria Riehemann mit Blick auf den nächsten lyrischen Garten ebenfalls und auf die Begegnung mit weiteren literarischen Debüts. In diesem Sinne zieht das aufmunternde Vereinsmotto „Lyrik lebt“ in Osterode für sie auch weitere Kreise unter dem Motto „Lyrik boomt!“.