Eine doppelte Premiere feierte das Junge Theater zum Saisonauftakt. Mit dem Göttinger Regiedebüt von Dramaturgin Isabelle Küster, die »Das kunstseidene Mädchen« nach dem Roman von Irmgard Keun inszenierte. Und mit Schauspielerin Thyra Uhde in ihrer ersten Rolle als neues Ensemblemitglied des Jungen Theaters. Mut und Leidenschaft prägen diesen Theaterabend um eine junge Frau, die sich eine Zukunft erträumt, die ihr die Verhältnisse verweigern. Aber allen Niederlagen zum Trotz möchte sie weiterhin darum kämpfen.
Es wird ein strahlender Auftritt mit den sanft verhallenden Gitarrentönen, wenn Thyra Uhde auf die Bühne stürmt. Ihr kunstseidenes Mädchen möchte sich erstmal feiern. Für die Entscheidung, ein Glanz zu werden, den provinziellen Mief hinter sich zu lassen, die Armut und diese Typen, die ihr ständig mehr als nur Gefälligkeiten abfordern. Die Euphorie hält noch eine ganze Zeit lang an, wenn sie jetzt ihr Traumtagebuch aufschlägt und die Chronologie der Ereignisse Revue passieren lässt. Über den galanten Verehrer lässt sich so schön spotten, über die erste Verliebtheit schon nicht mehr ganz so locker abgeklärt und erst recht nicht über diesen zudringlichen Vorgesetzen, bei dem ihr kleines Planspiel leider versagt. Immerhin bietet sich jetzt die Gelegenheit, noch mal kräftig über die Verhältnisse und ihre Zuträger zu lästern, die den Ehrgeiz von Irmgard Keuns rebellischer Doris nicht ausbremsen werden, sobald sie sich wieder wirkungsvoll in Szene setzen kann.
Das hohe graue Gestell im Zentrum der Bühne lässt an ein Himmelbett denken, wie es sich die Zukunftsträumerin wünscht, um in Glanz und Glamour zu posieren und möglichst lukrativ bewundert zu werden. Mit den silber glänzenden Stoffbahnen wirkt es zugleich wie ein Showroom, den sich Keuns Chronistin immer wieder für Momente in der Erinnerung ertrotzt, um dann die Vorhänge erneut zu schließen und sich den alltäglichen und besonderen Niederlagen zu widmen.
Das Großstadtabenteuer Berlin verspricht so viel an Nachtleben und an Freiräumen, die nicht von moralischen Diktaten und Konventionen diktiert werden. Vielleicht wäre aus Doris auch eine gefeierte Schauspielerin geworden, hätte sie nicht in einer Spielpause einen Pelzmantel gestohlen, um nach ihrer Flucht in die großen weiten Stadtwelt edel aufzutreten. Mit dem einen oder anderen Bewunderer oder als Geliebte eines wohlhabenden Gönners, um dann erneut in der Nachbarschaft von Zuhältern, misshandelten Frauen und vom Leben erschöpften Einsiedlern zu stranden, zu hungern und doch nicht zu verzweifeln.
Die Gestalt im Pelz genießt die Sehnsuchtswärme mit offenen Armen, den Duft von Flakons und irgendwann auch die Zuwendung eines fürsorglichen Zeitgenossen und lässt dann wieder die selbstbewusste Erzählerin glänzen, die ihre Verletzungen ummantelt, um kämpferisch am Ball zu bleiben. In der trotzig provokanten manchmal auch selbstironisch eingefärbten Sprache Irmgard Keuns für das kunstseidenen Mädchens bestärkt Thyra Uhde ihre Figur leidenschaftlich temperamentvoll, wie sie sich und ihre Glanzhoffnungen reflektiert und demonstrativ zur Schau stellt.
Isabelle Küster verbindet mit ihrer Inszenierung auch das Schauspiel einer Rollenspielerin, die sich mit dem attraktiven Schein behaupten muss und die männlichen Erwartungen taxiert, um im Überlebenswettbewerb erfolgreich zu punkten. Die Sehnsucht nach Glanz meint ebenso die Sehnsucht nach materieller Sicherheit und nach einem selbstbestimmten Leben unter den herrschenden Verhältnissen und ihren Rollenzuschreibungen, denen sich hier eine Überlebenskämpferin verweigert und das Spiel dennoch mitspielt. Je demonstrativer Thyra Uhde ihre Doris behaupten lässt, dass sie nach frostigen Nächten ohne Unterkunft und einsam hungrigen Tagen noch auf den erhofften Glanz vertraut, umso schmerzhafter berührt ihre Bilanz vom trotzigen Scheitern in Würde, wo neben den selbstironischen Bekenntnissen auch die Stimme nicht verstummen will, die nach Nähe, Zuneigung und Geborgenheit hungert.
Die spricht aus den Songs von Cyndi Lauper, Lykke Li und Radiohead, mit denen Thyra Uhde entscheidende Wendungen in der der Chronologie der Ereignisse musikalisch herausfordert. Auf der Bühne verschmelzen auch sie mit den Gitarrenstimmungen, die Marcus Prill der Chronistin von Aufbrüchen, Abstürzen und Widersprüchen widmet. Die kämpft und strahlt und will einfach nicht verkümmern. Wie ein trotziges Post Scriptum mutet der Schlusssong von Dana Del Rey an, in dem sich eine Frau dem heiklen Gefühl von Hoffnung stellt, bevor die Premiere für Isabelle Küster, Thyra Uhde mit dem kunstseidenen Mädchen mit enthusiastischem Beifall gefeiert wird.
Hören Sie auch den Podcast »Theatermagazin Szenenwechsel« zu diesem Stück
Die Premiere war am 26. August 2023