Timothy Ridout
Timothy Ridout | © Photo: Schäfer
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Göttinger Symphonieorchester

Musik aus Ungarn

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Ein ungarischer Abend mit Bartók, Rozsa und Weiner – ohne Puszta-Klischees
von Michael Schäfer, erschienen am 02. November 2025
Musik aus Ungarn: Da denkt der Klassikfan wohl zu allererst an die ungarischen Tänze von Brahms, die ungarischen Rhapsodien von Liszt oder an Operetten im ungarischen Milieu, die Csárdásfürstin vielleicht, den Zigeunerbaron oder die Arie „Klänge der Heimat“ aus der „Fledermaus“ mit der schönen Zeile „Feuer, Lebenslust, schwellt echte Ungarbrust“.

Doch der ungarische Abend des Göttinger Symphonieorchesters am Freitag hatte überhaupt nicht mit Postkartenkitsch, Puszta, Ziehbrunnen oder Piroschka zu tun. Das waren Werke ungarischer Komponisten des 20. Jahrhunderts, von denen zwei auf jeden Fall etwas mit echter ungarischer Volksmusik zu tun hatten, nämlich Bartóks „Fünf Bilder aus Ungarn“ und die Suite op. 18 nach ungarischen Volkstänzen des Reger-Schülers Leó Weiner (1885-1960). Beim dritten Werk, dem Konzert für Viola und Orchester von Miklós Rozsa, bleiben die ungarischen Wurzeln eher im Hintergrund, sind aber immer wieder spürbar. Denn Rozsa hat vor allem Musik für Hollywood-Filme komponiert, da steht eher die Breitwand im Vordergrund („Ben Hur“, „El Cid“, „Julius Caesar“) als die Bauern aus Siebenbürgen.

Der Dirigent des Abends, Simon Gaudenz, Jahrgang 1974, stammt aus Basel. Derzeit leitet er die Jenaer Philharmonie (wo Nicholas Milton von 2004 bis 2010 Chef war). Gaudenz, der erst Klarinette studiert hatte, bevor er sich dem Dirigieren zuwandte, ist ein sehr straffer Orchesterleiter mit einer klaren Zeichensprache, der seine musikalischen Vorstellungen stets deutlich zu vermitteln versteht und bei aller Freude am momentanen Detail  immer die spätere musikalische Entwicklung im Blick behält.

So hatten die fünf kleinen ungarischen Skizzen, die Bartók 1931 durch die Instrumentierung früher eigener Klavierstücke in den Konzertsaal transportiert hat, sehr klare Konturen und konnten ihre Charakteristik frühzeitig zu Bewusstsein bringen. Da gibt es melancholische Stimmungen, ausgelassene Tänze und eine wunderbar komische Szene in der vorletzten Nummer mit dem Titel „Etwas angeheitert“ (das Klavierstück ist englisch „Slightly tipsy“ überschrieben). Man erblickt in der Musik einen beschwipsten älteren Herrn, der nach seinem Wirtshausbesuch auf dem Heimweg nicht mehr so ganz gerade geht und zwischendurch auch mal Schluckauf bekommt. Es ist dies alles eine sehr unterhaltsame Musik, die nicht auf Tiefgang aus ist, sondern kleine Stimmungsbilder mit wenigen Strichen umreißt.

Das Orchester hatte sichtlich Spaß an diesem leichtgewichtigen Bartók, Der war zugleich ein beschwingtes Präludium zum emotionalen Vollbad, das Miklósz Rozsa in seinem Anfang der 1980er Jahre entstandenen Bratschenkonzert bereitet. Die Klangfarbenpalette im voll besetzten Orchester mit reichlich Blech, viel Schlagwerk, Harfe und Celesta ist der Filmmusik sehr nahe, auch wenn Rozsa selbstverständlich dem konzertanten Gestus dieses Werkes Rechnung trägt und nicht etwa das Soloinstrument in Tutti-Klangwogen ertränkt. Die Bratsche hat in diesem Konzert ungefähr die Funktion des singenden Barden, der einer gebannt lauschenden Menge seine Geschichten vorträgt.

Damit betraut war der britische Violaspieler Timothy Ridout, 2025 von Opus Klassik zum Nachwuchskünstler des Jahres gekürt. Bereits im März 2024 hat Ridout mit dem GSO in der Stadthalle konzertiert, schon damals mit einem Riesenerfolg. Den hat er am Freitag womöglich noch übertroffen. Sein Spiel ist ungeheuer intensiv, sein riesiger Ton voll und warm. Er spielt eine gut 450 Jahre alte Zanetto-Bratsche. Die amerikanische Musikerin Teng Li hat den Klang einer solchen Bratsche als „reich, warm, kraftvoll und von unglaublicher Tiefe“ beschrieben: „Er klingt nicht wie eine große Geige, was man manchmal von Bratschen kennt. Sein Charakter ist edel, klangvoll und grandios, und doch birgt er so viele Facetten, dass das Erkunden der Klangfarben zu einem unglaublichen Abenteuer wird.“

Ridout nahm die atemlos lauschenden Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf diese Entdeckungsreise und offenbarte klangliche Schönheiten, wie man sie nur selten zu hören bekommt. Das wurde gepaart mit der bewegenden Gefühlstiefe, die Rozsas Partitur bietet, außerdem gewürzt mit souveräner Virtuosität. Solist und Orchester musizierten unter der fein ausbalancierenden Führung von Gaudenz wunderbar harmonisch miteinander, man warf sich die Bälle zu, reagierte aufeinander, atmete auf dieselbe Weise. Die Begeisterung des Publikums entlud sich in prasselndem Applaus, untermischt mit Bravorufen. Ridout bedankte sich mit einer zarten Siciliana aus einer Solosonate von Telemann.

Auch das Schlussstück des Abends war ein virtuoser Brocken. In seiner Suite op. 18 über alte ungarische Volkstänze stellt Leó Weiner seinem Orchester eine Menge kniffliger Aufgaben, sein Instinkt für wirkungsvolle Effekte verlässt ihn nirgends. Das ungarische Idiom beherrscht Weiner meisterhaft, seine Musik ist für die 1930er Jahre vielleicht ein bisschen konventionell, aber auf alle Fälle sowohl mit staatstragendem Pathos als auch mit viel tänzerischem Temperament ausgestattet. Kein Wunder, dass Weiner für dieses Werk mit dem Ungarischen Staatspreis ausgezeichnet wurde.

Im sehr engagiert und konzentriert musizierenden Orchester gab es eine Fülle feiner solistischer Leistungen, mit denen vor allem die Holzbläser – besonders erwähnt seien Flötistin Bettina Bormuth, Oboist Matthias Weiss und Klarinettist Matthias Mauerer – betraut sind, dazu auch Konzertmeisterin Natalia Scholz mit ihrem edlen Violinsolo. Gaudenz und das Orchester wurden am Ende mit lautstarkem Beifall gefeiert, die Solistinnen und Solisten bekamen hochverdienten Extraapplaus. Auch das Orchester bedankte sich bei seinem Gast am Dirigentenpult mit warmherzigem Beifall.

 

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