Ein Konzert zwischen Glanz, Erinnerung und tiefer kultureller Verwurzelung: Die Akademische Orchestervereinigung Göttingen (AOV) präsentierte unter der Leitung von Tim Hüttemeister ein Programm, das nicht nur musikalisch reizvoll war, sondern auch mit einem subtil politischen Subtext aufwartete. Unter dem Titel „Zwischen Schönheit und Schatten“ – so der treffende Leitgedanke des Programmheft-Editorials – standen Werke von Wagner, Weigl, Liszt und Schreker auf dem Spielplan. Bekannte Orchesterstücke trafen auf selten Gehörtes, und das Publikum in der Universitätsaula dankte mit langanhaltendem Applaus.
Wagner: Glanzvoller Auftakt mit Wucht und Widerstand
Mit dem Vorspiel zu »Die Meistersinger von Nürnberg« wählte die AOV einen prachtvollen, zugleich anspruchsvollen Auftakt. Die große, festlich gesetzte Partitur verlangt besonders im Blech viel Kraft und Präzision – vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen und Tuba entfalten Wagners kontrapunktischen Pomp. Die AOV zeigte hier Mut und Einsatzfreude, musste jedoch der begrenzten Akustik der Aula Tribut zollen: Die Streicher konnten dem wuchtigen Blechklang nur begrenzt Paroli bieten. Dennoch gelang Tim Hüttemeister eine klare, rhythmisch gut gesteuerte Interpretation – mit feinem Gespür für die Wechsel zwischen Marsch, Fugato und Lyrik.
Weigl: Nostalgie ohne Kitsch
Mit »Old Vienna« von Karl Weigl, 1939 im amerikanischen Exil komponiert, betrat das Konzert Neuland. In diesem selten gespielten Stück gelingt es dem Komponisten, eine versunkene Klangwelt heraufzubeschwören – nicht als bloße Sentimentalität, sondern als poetischer Rückblick. Die AOV spielte diese Erinnerungsmusik mit Wärme und klanglicher Differenzierung. Flöte, Harfe und Klarinetten prägten das elegante Klangbild. Es war ein zarter Kontrast zur wuchtigen Eröffnung – und ein leiser Hinweis auf die Lebensrealität eines jüdischen Komponisten, der Wien hinter sich lassen musste.
Liszt: Monumentales mit doppeltem Schatten
»Les Préludes«, Franz Liszts bekannteste sinfonische Dichtung, wurde im 20. Jahrhundert durch ihre Vereinnahmung als Wochenschau-Musik durch die NS-Propaganda belastet. Tim Hüttemeister und die AOV begegneten diesem schwer ererbten Schatten mit einer Deutung, die sich auf Liszts musikalische Vision konzentrierte: den Wandel der Lebenskräfte, dargestellt in klanglicher Transformation. Wieder war die Klangbalance eine Herausforderung – die triumphale Schlusssteigerung überrollte die Streicher stellenweise. Doch die emotionale Klarheit und die deutliche Herausarbeitung der thematischen Wandlungen gaben dem Stück seine Würde zurück.
Schreker: Spätromantischer Rausch in vier Farben
Mit der »Romantischen Suite« op. 14 von Franz Schreker präsentierte die AOV ein weiteres Werk aus der Reihe der „vergessenen Moderne“. Die Suite, reich an harmonischer Farbigkeit und instrumentaler Raffinesse, wurde mit viel Liebe zum Detail gespielt. Die Klangfarben – zwischen Mahler, Debussy und einer ganz eigenen Handschrift – kamen besonders im Scherzo und Intermezzo schön zur Geltung. Hier zeigte sich die AOV klanglich am stimmigsten – vielleicht auch, weil das Werk weniger klangliche Konfrontation als flächige Entfaltung verlangt.

Was dieses Konzert auszeichnete, war nicht nur die musikalische Leistung – sondern der bewusste Umgang mit Geschichte, Klang und Kontext. Wagner und Liszt stehen heute nicht mehr unkommentiert im Raum, und die Gegenüberstellung mit den Werken von Weigl und Schreker machte deutlich, dass Musikgeschichte nicht nur in Klängen, sondern auch in Brüchen erzählt werden muss. Die AOV hat diesen Abend nicht nur musikalisch, sondern auch dramaturgisch klug und sensibel gestaltet. Ein Konzert, das berührt, bildet – und nachklingt.