Zwei Perspektiven auf Thomas Mann, ein Abend voller Spannung und Erkenntnis: Im prall gefüllten Literaturhaus Göttingen trafen Kai Sina und Tilmann Lahme aufeinander – der eine mit dem Blick auf den politischen Aktivisten, der andere mit dem Gespür für den zerrissenen Menschen hinter dem Werk. Ein Gespräch über Stimme, Strategie und literarisches Versteckspiel – klug, lebendig und mit langem Applaus belohnt.
„Thomas Mann, demokratischer Aktivist und desolater Außenseiter“ – unter diesem Titel hatte das Literarische Zentrum Göttingen zu einem besonderen Gesprächsabend mit Kai Sina und Tilmann Lahme in das Literaturhaus eingeladen. Beide verbindet nicht nur eine langjährige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Manns, sondern auch eine gemeinsame Vergangenheit in Göttingen. „Wir kennen uns schon sehr lange und haben zeitweise sogar in derselben Straße gewohnt“, sagte Lahme mit einem Lächeln – und es war genau diese Vertrautheit, die dem Abend Tiefe, Witz und eine feine intellektuelle Spannung verlieh.
Das Literaturhaus war bis auf den letzten Platz gefüllt, sogar die Stehplätze waren rar – und das zu Recht: Denn selten begegnet man zwei so unterschiedlichen, sich zugleich so präzise ergänzenden Lesarten eines Schriftstellers, dessen Werk auch 150 Jahre nach seiner Geburt nichts an Faszination eingebüßt hat.
Ein Autor zwischen Leben und Haltung
Tilmann Lahme eröffnete den Abend erst erzählend, dann mit Passagen aus seiner 2025 erschienenen Biografie Thomas Mann. Ein Leben (dtv). In atmosphärisch dichter Sprache zeichnete er das Bild eines innerlich zerrissenen Autors – zwischen öffentlichem Ruhm und privatem Rückzug, zwischen Lebenslüge und literarischer Sublimierung. Lahme sprach offen über Manns verdrängte Homosexualität, über frühe emotionale Erfahrungen, die sich literarisch niederschlugen – etwa in der Szene im Zauberberg, in der ein Knabe um einen Bleistift bittet: eine autobiografisch inspirierte Episode.
Neben biografischer Genauigkeit überzeugte Lahme in seinem Buch vor allem durch stilistische Eleganz und psychologisches Feingefühl – ein Porträt, das Thomas Mann nicht auf seinen Denkmalsockel zurückstellt, sondern ihn als Mensch zeigt: verletzlich, rätselhaft, nahbar.
Der politische Thomas Mann – Stimme, Haltung, Bühne
Kai Sina, der viele Jahre an der Universität Göttingen tätig war, präsentierte eine gänzlich andere Perspektive („Wir sind in einer Universitätsstatt, Sie halten das aus!“) Thomas Mann als politischen Aktivisten, als Redner, der sich im amerikanischen Exil in die Weltpolitik einmischte. Sina zitierte aus seinem Buch Was gut ist und was böse, Thomas Mann als politischer Aktivist (Propyläen), das den öffentlichen, kämpferischen Thomas Mann in den Mittelpunkt stellt – den Mann der Reden, des Radios, der performativen Selbstinszenierung.
Eindrucksvoll beschrieb er die technischen Wege, über die Manns BBC-Reden aus den NBC-Studios in Hollywood über New York nach London und von dort per Langwelle ins Deutsche Reich gesendet wurden. Auch Manns großen Reden im Berliner Beethovensaal – Von deutscher Republik (1922) und die Deutsche Ansprache (1930) – ordnete Sina präzise ein: als Wendepunkte, an denen sich das politische Profil des Autors schärfte.
Ein Zwiegespräch voller Kontraste – und Komplementarität
Im anschließenden Zwiegespräch und später im Gespräch mit dem Publikum trafen zwei Denkansätze aufeinander: Lahme, der das Verborgene, das Subtile betonte – „Thomas Mann ist ein Großmeister im Verstecken“ – und Sina, der die strategische Klarheit in Manns öffentlicher Haltung hervorhob: „Er wollte mit seiner Stimme wirken.“
Die beiden Perspektiven prallten nie gegeneinander, sondern ergänzten sich – wie zwei Spiegel, die gemeinsam ein facettenreiches Bild entstehen ließen. Die zentrale Frage blieb dabei stets offen: Wie passen der private Zweifelnde und der öffentliche Mahner Thomas Mann zusammen? Die Antwort: Vielleicht nur, wenn man sich weigert, ihn eindeutig zu deuten.
Ein literarischer Festabend
Was als „Geburtstagsfeier“ für Thomas Mann angekündigt war, wurde zu einem der intelligentesten, lebendigsten Literaturabende der Saison. Mitreißend, aufschlussreich und inspiriert vom echten Gespräch. Der lange Applaus am Ende war nicht nur höflich, sondern herzlich – für zwei Bücher, zwei Stimmen und eine literarische Figur, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit so faszinierend bleibt.