Çiğdem Akyol ist an diesem Abend zum ersten Mal in Göttingen, obwohl ihr Roman »Geliebte Mutter – Canım Annem« im Göttinger Steidl Verlag erschienen ist. Es ist ein gelungenes Kennenlernen. Akyol spricht am Abend mit der Literaturwissenschaftlerin Anke Detken über viele verschiedene Themen. Im Vordergrund steht dabei Akyols Roman, der von ambivalenter Liebe, Wut und auch vom Verzeihen handelt.
Erst einmal tritt der Inhalt des Romans aber in den Hintergrund, denn Detken stellt einige Fragen zu dessen Entstehung, die Akyol gerne beantwortet. So erfährt das Publikum, dass das Cover des Romans ein Kompromiss zwischen Verlag und Autorin gewesen sei und dass das Buch Akyols Mutter gewidmet ist, die sie inspiriert habe. Die Autorin spricht auch über die Idee für den Roman. Hauptsächlich ist sie nämlich für journalistische Texte bekannt. Den Roman habe sie geschrieben, weil sie zeigen wolle, dass es sich bei Menschen wie sie im Buch vorkommen, nicht nur um Zahlen oder Statistiken handele. Besonders der Realität vieler Frauen wolle sie so eine Stimme geben.
Detken stellt zudem Fragen zu dem eher unkonventionellen Titel, der auf Deutsch wie auf Türkisch auch auf dem Cover zu lesen ist. Auch im Roman sind immer wieder türkische Sätze und kurze Textstellen zu finden. Einige davon hat Akyol zusätzlich übersetzt, andere stehen nur im Original da. Akyol erklärt, sie sei dabei nach ihrem Gefühl gegangen, was habe sich richtig angefühlt und zum Sound des Romans gepasst. Dabei betont sie, dass das Türkische in Deutschland inzwischen keine fremde Sprache mehr sei und diese Textstellen den Leser:innen zugemutet werden könnten. Die Eigenverantwortung der Lesenden, die so dabei anspricht, ist erfrischend und zeigt auch ihre Einstellung als Autorin.
So ist auch der Roman weitestgehend wertfrei geschrieben. Akyol beschreibt Realitäten wie sie sich für sehr viele Menschen so oder so ähnlich ergeben haben. Dabei verharmlost oder beschönigt sie nichts, im Roman gibt es einige solcher Stellen. So zum Beispiel die Szene einer unfreiwilligen Hochzeitsnacht, die Akyol dem Göttinger Publikum vorliest. Dabei bleiben ihre Figuren komplex und vielschichtig. Der Roman lässt Bewertungen der Ereignisse und Figuren durchaus zu, er gibt sie bloß nicht vor, sondern erlaubt auch hier den Lesenden eine eigene Meinung zu bilden und Verantwortung zu übernehmen. Menschen stünden mit sich selbst im ständigen Widerspruch, erklärt Akyol. Diesen Widerspruch sieht man sehr deutlich in ihren Figuren und Akyol löst ihn weder im Roman noch im Gespräch am Abend auf.
Trotz vieler schwieriger Themen fühlt der Abend sich zu schwer an. Das liegt nicht zuletzt an der Dynamik zwischen Akyol und Detken, die gut miteinander harmonieren und durch deren Austausch viele verschiedene Aspekte zum Thema werden. In Akyols Antworten wird ihre reflektive und durchdachte Art immer wieder deutlich.
Es ist kein Wunder, dass Akyol nicht mehr dazu kommt, noch eine letzte Stelle des Romans vorzulesen. Die Zeit wird anders genutzt, denn viele Leute aus dem Publikum stellen Fragen. Sie zeigen großes Interesse an dem Roman und an der Autorin und bereichern durch verschiedene Perspektiven den Abend ganz besonders. Die Schlange, um sich den Roman signieren zu lassen, ist schließlich lang. Akyol beantwortet währenddessen weiter Fragen und stellt selbst welche. Das gegenseitige Interesse von Publikum und Autorin ist auch hier zu spüren. Der Abend ist damit ein voller Erfolg und Akyol zeigt, dass ihr zuzuhören genauso erstrebenswert ist, wie ihren Roman zu lesen.