Pessimismus, Weltuntergangsfantasien, moralischer Verfall. Dies sind zentrale Motive der Literaturepoche der Moderne, in welcher auch Robert Musils Roman »Die Verwirrung des Zögling Törless« 1906 erschien. Eben jenes Werk ist Thomas Birkmeir nun Vorlage für eine bühnenbasierte Theateraufbereitung mit dem Titel »Törless«, welches die sadistischen Abgründe der menschlichen Identität und Moral mit erschreckend-ästhetischer Bildgewalt inszeniert. »Törless« feierte am 21. September in der Inszenierung von Janis Knorr Premiere im Deutschen Theater Göttingen.
Der Protagonist Törless, gespielt von Lou von Gündell, erlebt im Laufe seines Erwachsenwerdens eine tiefgründige innere Zerrissenheit. Diese wird auf die Probe gestellt, als er und seine Mitschüler:innen Reiting und Beineberg (Daniel Mühe und Stella Maria Köb) Zeug:innen eines verzweifelten Verbrechens ihres ebenfalls Mitschülers Basini werden. Jene Tat zwingt Törless hierbei, sich mit den eigenen Gefühlen, dem Potenzial des eigenen Intellekts und letztendlich der persönlichen moralischen Orientierung auseinanderzusetzen.
Von Gündell feiert mit ihrer Rolle nicht nur ihr Debüt im Ensemble, sondern meistert mit dieser auch die Darstellung einer äußerst komplexen, zwielichtigen Figur. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Törless im originalen Roman eine eindeutig männliche Figur ist, hier aber von einer weiblichen Schauspielerin verkörpert wird. Im Stück selbst scheint es diesbezüglich ebenfalls keine eindeutige Zuordnung zu geben, was die tiefe Zerrissenheit und Unbeschriebenheit der Figur einmal mehr herausstellt. Auch dadurch beweist von Gündell ihren Facettenreichtum als Schauspielerin und erlaubt mit sequenziellen Monologen tiefe, erschütternde Einblicke in die demoralisierte Psyche des Protagonisten.
Bei Törless Mitschüler:innen scheint die Frage nach der persönlichen Moral bereits gefestigt, denn Reiting und Beineberg entscheiden sich gegen ein institutionelles Urteil durch die Internatsleitung, und beschließen stattdessen, Basini (Leonard Wilhelm) mit der Opportunität ihres Wissens zu erpressen. Mit dieser Entscheidung beginnt ein mentaler Machtkampf, der Basini letztlich in die freiwillige Unterwerfung zwingt. Schnell wird dabei deutlich, dass von diesem keine treue Dienerschaft erwartet wird, sondern jener, volontär als Objekt entmenschlicht, dem demütigenden Missbrauch seiner Machthaber ausgesetzt ist. Die dargestellten Abgründe von Gewalt und Sadismus werden dabei auf expressive und gleichzeitig befremdende Art und Weise von den Schauspieler:innen auf der Bühne inszeniert. Die körperliche und anzügliche Nähe, die jene Peiniger zu ihrem Opfer suchen sowie die Komfortabilität, mit der die psychischen und physischen Erniedrigungen Basinis dargestellt werden, rufen ein ureigenes Gefühl er Ablehnung hervor. Das unzensierte, tabulose Schauspiel appelliert an die persönlichen ethischen Überzeugungen. Was auf der Bühne perzipiert wird, wird als falsch empfunden. Doch ist ein solches Verhalten derartig abwegig? Oder sind Brutalität und Extremismus Tendenzen der abgründigen Natur des Menschen?
Diese Frage schlägt sich auch in der Bühnengestaltung von Birgit Leitzinger nieder. Ein brutalistisches, starres Gebilde aus Beton, bedeckt von schwarzen Ranken. Kalt, düster und autoritär. Sind es also die Umstände, die die Dichotomie von Führer und Gefolgschaft auf der Mikroebene zulassen? Verdirbt nicht erst die autoritäre Gesellschaft die Moral des Menschen auf solch vehemente Weise, dass dieser Gefallen an alltäglichem Machtmissbrauch und skrupelloser Folter findet? Nach solchen Grenzerfahrungen sucht auch Törless, sein kognitiver Konflikt wird dabei immer wieder zum Fluchtpunkt des Stücks. Bezogen auf Reiting und Beineberg ist er mal Komplize, mal Rebell. Bezogen auf Basini mal Unterdrücker, mal Unterstützer. Das Spannungsfeld von Intellektualität und Triebhaftigkeit, Rationalität und Irrationalität, in welchem die Mächtigen triumphieren und die Schwachen ihrem willkürlichen Willen unterwerfen, bildet die Regie, geleitet durch Janis Knorr, in obskurer Intensität ab. Dabei wird bewusst die Quelle für folgenreichere gesellschaftliche Verhältnisse angedeutet. Dynamiken der hemmungslosen Herrschaft und tolerierten Exekution dieser können nur implizieren, wie schnell niederträchtiger Sadismus zwischen einzelnen Akteuren als Katalysator für extremistischen Faschismus im großen Stil funktionieren kann.
Das Ausmaß dessen bleibt im Stück selbst zu erahnen, macht die Bedrohung damit allerdings nur allzu deutlich.