Am 3. August 2014 ereignete sich das 74. Massaker an der êzidischen Bevölkerung. Was für die meisten Deutschen ein gewöhnlicher Sommertag gewesen ist, war für einen Teil der Welt ein grausamer Angriff auf die Menschlichkeit. An diesem Tag überfielen Kämpfer der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) êzidische Dörfer und Städte, insbesondere Shingal im Norden des Iraks. Als Genozid von den Vereinten Nationen (UN) eingestuft, bleibt nichts als Sprachlosigkeit über solche Gräueltaten zurück.
Den Opfern eine Stimme geben, indem über das, was zurückgeblieben ist berichtet wird, machte und macht sich Ronya Othmann mit ihrem neuen Buch »Vierundsiebzig« - das auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert ist – zur Aufgabe. Auf Einladung des Literarischen Zentrums Göttingen stellt sie am 18. September ihr Buch im Gespräch mit Alexandru Bulucz im Rahmen einer Lesung im Literaturhaus Göttingen vor.
Othmann – als Tochter eines êzidischen Vaters – wird selbst zur Erzählerin ihres Romans. Sie schildert ihre Erlebnisse mal wie eine Reportage, mal fast schon tagebuchartig. Denn sie ist Zeugin. Zeugin der Bruchstücke, die von den Angriffen übergeblieben sind. Vier Jahre später reiste sie nach Kurdistan zu ihren Verwandten und zu den Tatorten. Sie trifft auf verlassene und zerstörte Dörfer. Auf Menschen, die ihre Stimme verloren und Schreckliches mitansehen mussten. Schonungslos und mit der notwendigen Ehrlichkeit und Härte richtet sie die Aufmerksamkeit auf dieses Thema, um Aufklärungsarbeit zu leisten und um nicht vergessen zu werden.
Im Gespräch der Autorin mit dem Lyriker, Herausgeber, Übersetzer und Kritiker Alexandru Bulucz wird immer wieder die eigene Betroffenheit und Emotionalität dieses Themas deutlich. Neutralität steht im Konflikt mit persönlichen Emotionen, macht es jedoch gerade dadurch nahbar und authentisch. Die Möglichkeit, im Anschluss Fragen stellen zu können, eröffnete die Möglichkeit für das Publikum, die Thematik greifbarer zu machen. Dennoch bleiben die Strukturen des Êzidentums und ihre jahrhundertelange Verfolgung ein sehr komplexes Thema, das durch einen Abend nicht in Gänze beleuchtet werden kann.
Das, was Ronya Othmann durch verflochtene Gedanken und einer Fülle von Informationen nicht ganz genau auf den Punkt bringen konnte, findet jedoch durch die von ihr gewählten und vorgelesenen Textstellen Ordnung. Mit einer angenehmen Ruhe und Ernsthaftigkeit liest sie über die brutalen Erzählungen der Überlebenden des êzidischen Volkes. An anderer Stelle erzählt sie von einer Fahrt durch die Landschaft des Nordiraks. Was zunächst gewöhnliche Landschaften sind, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Ruinen und verlassene Dörfer, Massengräber und Landminen. Orte, die Tatorte wurden und nie wieder die Alten sein werden. Eine Reihe von dichter Trostlosigkeit, die jedoch genau dieses Format benötigt, um Sensibilität und Verständnis zu erzeugen.
Die Vorstellung und Lesung von »Vierundsiebzig« zeigt uns, dass das Erzählen nicht nur Erinnerung wachhält, sondern auch dazu beiträgt, die Wunden eines Volkes sichtbar zu machen, dessen Leiden oft im Schatten der Weltöffentlichkeit stehen. Ronya Othmann gibt den Opfern der Massaker ihre Stimme zurück, indem sie ihre Geschichten erzählt – Geschichten, die vor allem in heutiger Zeit nicht vergessen werden dürfen. Ihr Roman macht deutlich, dass die Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen nicht nur notwendig, sondern auch unerlässlich für das Verständnis von Menschlichkeit und Gerechtigkeit ist und dass solch Taten in Einheit bekämpft werden müssen.