Mit Georg Friedrich Händels Tamerlano eröffnete am 17. Mai 2025 eine der dunkelsten und zugleich packendsten Opern des Barock die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen. Unter der musikalischen Leitung von George Petrou und in der Regie von Rosetta Cucchi wurde das Macht- und Seelendrama um Eroberung, Hass und emotionale Abgründe in einer psychologisch verdichteten, eindringlich modernen Inszenierung auf die Bühne des Deutschen Theaters gebracht.
Ein düsteres Kammerspiel der Affekte
Tamerlano, 1724 in London uraufgeführt, zählt zu Händels großen Meisterwerken der Opera seria. Die Geschichte um den Tatarenherrscher, der den osmanischen Sultan Bajazet besiegt und dessen Tochter Asteria begehrt, ist ein raffiniert gebautes Geflecht aus Machtspielen, emotionaler Erpressung und tragischer Selbstbestimmung. Der Hass – zwischen Bajazet und Tamerlano, aber auch innerhalb der Figuren selbst – bildet dabei das dunkle Zentrum: ein Affekt, der alle anderen Gefühle überlagert und die Handlung unaufhaltsam in die Katastrophe treibt.
Inszenierung mit klarer Handschrift
Rosetta Cucchi verlegt die Geschichte in eine nicht näher definierte Gegenwart, ohne die barocke Form zu verleugnen. Im Zentrum steht das psychologische Ringen der Figuren – unterstützt von Tiziano Santis wandelbarem Bühnenbild, das durch Licht und Struktur immer neue emotionale Räume entstehen lässt. Claudia Pernigottis Kostüme unterstreichen die Zeitlosigkeit der inneren Konflikte.
Eine besondere Rolle spielte dabei die Statisterie: Fast ständig auf der Bühne, wurden die Statisten zu einem integralen Bestandteil der Szene. Ihre stille Präsenz, sorgfältig choreografiert, verstärkte die Atmosphäre und schuf ein Gefühl ständiger Beobachtung und gesellschaftlicher Kontrolle – ein subtiles, aber wirkungsvolles Mittel.
Wenn im ersten Akt noch klare Fronten zwischen den Figuren zu herrschen scheinen, bröckeln diese im Verlauf zusehends. Besonders Tamerlano verliert zunehmend die Kontrolle, bis er im dritten Akt entblößt und leer vor dem Publikum steht – zu spät, um Bajazets Suizid zu verhindern. Der Schlusschor wird von Petrou a cappella angestimmt: „Fra le tede, che Lachesi accende, chiara splende la face d’Amor“ – Ein zarter Hoffnungsschimmer inmitten des Desasters.
Ein Orchester in Höchstform
Das FestspielOrchester Göttingen musizierte unter George Petrou auf Weltklasse-Niveau. Vom ersten Takt an war ein gewachsenes künstlerisches Vertrauensverhältnis zwischen Dirigent und Ensemble spürbar. Petrou führte mit kluger Zurückhaltung und zugleich pulsierender Energie durch Händels Partitur. Besonders hervorzuheben war das reaktionsschnelle Continuo-Spiel, das die Seelenzustände der Figuren fast atmend begleitete.
Feinste dynamische Schattierungen, rhythmische Präzision und affektgeladene Bögen verliehen der Aufführung eine unglaubliche Lebendigkeit. Die Bläser glänzten mit klarem Ton und dramatischer Farbigkeit, während die Streicher dem Orchester einen samtigen, tragenden Klangkörper gaben. Die musikalische Gestaltung war nicht nur technisch brillant, sondern dramaturgisch tief durchdrungen.
Ein Ensemble von großer Geschlossenheit
Juan Sancho als Bajazet war der stimmlich wie darstellerisch herausragende Protagonist des Abends: Stolz, verletzlich, aufwühlend. Seine letzte Szene war von erschütternder Eindringlichkeit. Lawrence Zazzo gestaltete die Titelrolle mit großer stimmlicher Brillanz und Virtuosität, seine szenische Überzeichnung hingegen wirkte an manchen Stellen überzogen und unnötig exaltiert.
Louise Kemény als Asteria überzeugte trotz leichter Erkältung mit klarer, lyrischer Stimme und emotionaler Bandbreite – zwischen aufgestautem Hass und innerer Zerrissenheit. Yuriy Mynenko (Andronico) präsentierte sich als ausdrucksstarker, sensibel formulierender Countertenor, Dara Savinova (Irene) glänzte mit leuchtender Höhe und starker Bühnenpräsenz. Sreten Manojlović rundete das Ensemble als Leone mit kraftvollem Bassbariton ab.
Fazit
Die Premiere von Tamerlano in Göttingen war ein eindrucksvoller Beweis für die lebendige und zeitgemäße Kraft barocker Opernkunst. Mit einem Ensemble in starker Geschlossenheit, einem dirigentischen Kraftzentrum in George Petrou und einer klug durchdachten Regie gelang eine Aufführung von großer künstlerischer Dichte. Dass diese knapp vier Stunden dauernde Barockoper dabei kein bisschen lang, sondern durchweg packend, grandios und bewegend war, ist das vielleicht schönste Kompliment an alle Beteiligten.
Ein Abend, der unter die Haut ging – und in Erinnerung bleibt.