Spürt den Zorn Gottes! Denn Klaas Stok, Chefdirigent des NDR Vokalensembles, lässt die biblischen Plagen los, mitsamt nervig sirrenden Fliegen und Heuschrecken in den Violinen. Blutiges Wasser, Hagel, nie endende Finsternis und aufeinanderprallende Chöre: Bei der Aufführung von »Israel in Egypt HWV 54« in der Stadthalle war mächtig was los! Natürlich fand auch dieses besondere Event im Rahmen der Händel-Festspiele statt. Für Händels episches Oratorium kam am 18. Mai ein hochkarätiges Ensemble zusammen, das perfekt miteinander harmonierte. Neben erstklassigen Solistinnen und Solisten wie Ruby Hughes (Sopran) oder Maarten Engeltjes (Countertenor), war auch das FestspielOrchester Göttingen und das NDR Vokalensemble mit am Start.
Der Chor spielt in Georg Friedrich Händels Werk von 1738 eine zentrale Rolle. Nicht individuelle Schicksale stehen im Mittelpunkt, sondern das Volk der Israeliten. Somit nahm das NDR Vokalensemble die Rolles des Volks Israel ein und konnte seine herausragenden Chorklänge voll zum Ausdruck bringen. Die Stimmgruppen im Chor streiten, flehen zu Gott, jubeln triumphal und huldigen den Herrn. Dabei ist der Chor meist massiv homophon und kontrapunktisch komplex komponiert. Das Vokalensemble fungiert nicht nur als subjektiv handelnde Gruppe, sondern auch als objektiver Berichterstatter. Denn Händel erzählt mit »Israel in Egypt« die Ereignisse aus dem 2. Buch Mose und den Psalmen als eine Art Reportage - von dem Auszug der Israeliten aus Ägypten bis hin zum Exodus und der Flucht durch das trockene Meer. „How is the mighty fall’n!“ Allein schon am Anfang mit der Klage um den Tod Josephs überwältigte der Chor das Publikum mit seinem wuchtigen Volumen und seiner nuancierten Klangfülle. Oftmals mit gregorianischen Zügen durch die männlichen Gesangsstimmen, schuf der Chor eine wahrlich himmlische, demutsvolle und beinahe schon göttliche Atmosphäre durch sein formidables und gewaltiges Klangbild. Auch monumentale Steigerungen und olympische Farbtöne brachte der Chor hervorragend zum Ausdruck!
Das FestspielOrchester Göttingen zeigte sich ebenfalls von seiner besten Seite und untermalte das Geschehen mit ergreifenden Klängen. Langsame tiefe Streicher spielen bei dem lauten Klagen des Chors und erzeugen eine richtig düstere Atmosphäre. Die Israeliten wurden in Ägypten dank Joseph, dem Berater des Pharaos, gut behandelt. Dies ändert sich mit seinem Tod. Die Israeliten müssen fliehen, doch die Rettung naht: Gott erhört das Klagen des Volkes und schickt Moses und mit ihm die zehn Plagen. Das FestspielOrchester löste ein fantasievolles und packendes Kopfkino aus, als es die biblischen Plagen in musikalischer Form eindrucksvoll präsentierte.
Mit sehr schnellen, hektischen Zweiunddreißigstel-Figurationen in den Violinen schwirrt der Fliegen- und Heuschreckenschwarm über die Köpfe der Zuschauerinnen und Zuschauer. Anschließend streicht Jonas Nordberg die Saiten auf seiner Laute runter und verleiht der Plage noch mehr Nachdruck. Bei den gehämmerten Hagelschlag-Passagen spielen die Bläser und Streicher daraufhin im Duett, besonders die Violinen werden immer wilder, rascher und betonen den hereinbrechenden Hagelsturm. Mit tiefen und bedrückenden Tönen auf seiner Orgel sorgt Antonius Adamske daraufhin für ordentlich Finsternis im Saal. Auch die Stimmen des Chores scheinen sich in dieser undurchdringlichen Finsternis zu verirren und können nicht mehr zueinander finden!
Mitreißende kolossale Paukenschläge überströmten schließlich die Ränge der Halle, denn diese stellten eindrucksvoll die Szene dar, in welcher die ägyptischen Verfolger von den gewaltigen Fluten des roten Meeres verschlungen werden! Der Saal bebte richtig, sodass es sich so anfühlte, als werde man buchstäblich von den imposanten „Klang-Wellen“ mitgerissen!
Weitere Highlights waren gewiss auch die herausragenden Arien und Duette der Solisten. Die Sopranistinnen Ruby Hughes und Lucy De Butts demonstrierten zum Beispiel in einem Duett die besondere Beweglichkeit ihrer Stimmen im hohen Register. Sie sangen aus voller Brust und erklärten feierlich, wie der Herr Kraft und Erlösung schenkt. Ein wahrlich majestätischer Moment, der durch die romantischen Klänge der Streicher noch weiter verstärkt wurde. Ruby Hughes gab schließlich alles und stellte ihre grandiose Koloraturfähigkeit in einer Arie unter Beweis, in der sie schilderte, wie die Verfolger in den „mighty Waters“ versinken.
Aus Krankheitsgründen musste der ungarische Sänger Dávid Csizmár (Bass) für Joshua Bloom einspringen, dieser machte aber eine nicht minder beeindruckende Performance. Zusammen mit Bassist Andrea Pruys sang er mit tiefer erhabener Stimme in einem Duett über die gigantischen Fluten, die die ägyptischen Streitwagen wegfegten.
Die Virtuosen Maarten Engeltjes (Countertenor) und Fabio Trümphy (Tenor) dürfen natürlich auch nicht außer Acht gelassen werden. Auch sie zeigten ihre volle Hingabe für Händels Werk. Bei ihrem herausfordernden Duett und in weiteren Arien sah man den beiden ihre Anstrengung gar nicht an. Mit einem ganz und gar fröhlichen Ausdruck sangen sie aus vollem Halse, versanken tief in der Musik und präsentierten ihr großes Stimmvolumen, ohne dabei ins Schwitzen zu kommen.
Ein wahrer Moment des Triumphs ereignete sich schließlich am Ende des Stücks, als Ruby Hughes mit sehr agiler Stimme hohe Töne erreichte. Sie verkündete, dass der Herr triumphiert hat und verziert die Silben des Wortes „Gloriously“ mit einer weiteren wunderbaren Koloratur und mit ihrer besonderen Klangfarbe. Damit versetze sie das gesamte Publikum regelrecht ins Staunen! Auch der mächtige Klang der Posaunen erhöhte das triumphale Gefühl enorm und brachte »Israel in Egypt« zu einem ehrwürdigen Ende!
Mit »Israel in Egypt HWV 54« präsentierten die Händel-Festpiele ein Oratorium, das genau den Nerv unserer Zeit trifft! Das NDR Vokalensemble und das FestspielOrchester Göttingen erreichten zusammen eine großartige Klangqualität und -farbe, während die Sängerinnen und Sänger ihren virtuosen Stimmen vollen Ausdruck verleihen konnten. Die biblischen Plagen und den Zorn Gottes haben Sie in dieser reinsten musikalischen Form sicherlich noch nicht erlebt! Einfach phänomenales Kopfkino!