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Wallstein Verlag

Eine Biografie zwischen Exil, Rückkehr und Erinnerungskultur

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»Gerhard und Sabine Leibholz« – Frauke Geykens eindrückliches Porträt eines Ehepaares im Schatten der Geschichte
von Jens Wortmann, erschienen am 24. August 2025

Mit „Gerhard und Sabine Leibholz. Auch eine Geschichte der Familie Bonhoeffer“ hat die Historikerin Frauke Geyken eine Biografie veröffentlicht, die weit über den Rahmen zweier Einzelschicksale hinausweist. Das Buch, erschienen im Göttinger Wallstein Verlag, erzählt von Ausgrenzung, Flucht, Remigration und dem langen Schatten politischer und privater Traumata. Dass Autorin wie Verlag aus Göttingen stammen, verleiht dem Werk auch für unsere Stadt besondere Relevanz – nicht nur inhaltlich, sondern auch kulturgeschichtlich.

Im Zentrum stehen Gerhard Leibholz, Jurist und später Bundesverfassungsrichter, und seine Frau Sabine, Zwillingsschwester des berühmten Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Beide gehörten zu denjenigen, die Deutschland in den 1930er-Jahren verlassen mussten. Gerhard, aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1935 zwangsemeritiert, emigrierte mit seiner Familie 1938 nach England. Die Rückkehr nach Göttingen 1947, so zeigt Geyken eindrucksvoll, war zwar ein offizielles Comeback – aber auch ein Neuanfang unter belastenden Voraussetzungen: Als sogenannte Remigranten standen die Leibholzens zwischen allen Fronten – nicht mehr im Exil, aber auch nicht wieder richtig „zu Hause“.

Frauke Geyken, die viele Jahre an der Universität Göttingen tätig war und auch heute noch eng mit dem kulturellen Leben der Stadt verbunden ist, nähert sich dem Thema mit der Genauigkeit der Historikerin und dem Gespür für persönliche Brüche. Auf Basis erstmals ausgewerteter privater Korrespondenz gelingt ihr eine tiefgreifende Darstellung, die nicht nur historische Fakten aufarbeitet, sondern auch emotionale Innenwelten sichtbar macht. Besonders bemerkenswert ist, wie Geyken den Blick auf die Familie Bonhoeffer erweitert: weg vom Heldenmythos, hin zu den zerrissenen Beziehungen, den innerfamiliären Konflikten und der allgegenwärtigen Belastung durch das Exil.

Auch aus Sicht der Göttinger Erinnerungskultur ist das Buch ein Gewinn. Es beleuchtet eine Phase, in der unsere Stadt zum Rückzugsort für viele Rückkehrer aus dem Exil wurde – darunter Intellektuelle, Wissenschaftler:innen, Juristen. Dass Gerhard Leibholz seine akademische Karriere hier fortsetzte, ist Teil jener oft übersehenen Nachkriegsgeschichte Göttingens, die dieses Buch nun ans Licht bringt. Nicht zuletzt steht das Werk damit auch im Kontext aktueller Debatten über Integration, Erinnerung und Umgang mit traumatischen Vergangenheiten.

Kritiker:innen loben die nüchterne, aber feinfühlige Erzählweise, die sich jeder Heroisierung entzieht. Statt einer reinen Erfolgsgeschichte erzählt Geyken ein Kapitel der deutschen Geschichte, das von Brüchen geprägt ist – und damit umso glaubwürdiger und berührender wirkt. Die Leipziger Literaturwissenschaftlerin Martina Seliger etwa bezeichnete das Kapitel über das englische Exil als „Kernstück des Buches“, weil es exemplarisch zeige, wie Flucht zwar das Leben rettete, aber die Seele verletzte.

Das Buch wurde im Herbst 2024 auch im Rahmen einer Veranstaltung in Göttingen vorgestellt – ein passender Rahmen für ein Werk, das so eng mit der Stadt verbunden ist. Frauke Geyken, die bereits durch Arbeiten zur Göttinger Universitätsgeschichte bekannt wurde, beweist mit diesem Band einmal mehr, dass sie die historische Forschung mit dem literarisch-biografischen Erzählen auf bemerkenswerte Weise verbinden kann.

„Gerhard und Sabine Leibholz“ ist damit weit mehr als nur eine Biografie: Es ist ein Beitrag zur Aufarbeitung unserer Stadtgeschichte, ein Porträt eines außergewöhnlichen Ehepaares – und ein eindringliches Plädoyer für das Erinnern ohne Verklärung.

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