Dominik Müller (Winston Smith) | © Clemens Heidrich / Gandersheimer Domfestspiele gGmbH
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Gandersheimer Domfestspiele

Das Schauspiel von einem Menschen vernichtenden System

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Premiere für »1984« im Probenzentrum
von Tina Fibiger, erschienen am 24. Juli 2024

Die Kamera ist stets präsent, selbst wenn sich manchmal eine der beiden Videoleinwände verdunkelt. Auch Dominik Müller, der als Winston Smith vorübergehend einen Ausweg aus diesem Überwachungssystem zu finden glaubt, wird nicht ständig in bewegten Bildern gespiegelt. Dennoch bleibt nichts unentdeckt, was den Erzähler und Zeitchronisten in George Orwells düsterer Vision »1984« auch innerlich umtreibt. Die beiden Beobachtungsstationen, die seinen langen, schmalen Bühnenweg begrenzen, haben bereits ein eindeutiges Signal gesendet, wenn sie ein männliches Gesicht mit verschwommenen, ständig wechselnden, Gesichtszügen mit dem Schriftzug einblenden. „Big Brother is watching you“.

Wie geschaffen für eine dramatische Nahaufnahme ist diese Bühnenfassung des Romans von George Orwell, aus dem Regisseurin Franziska Detrez ein Stationendrama geformt hat. Die Menschen vernichtenden Strategien eines autokratischen Systems sind weiterhin das zentrale Thema, das in »1984« reflektiert wird. Aber auf der Bühne des Probenzentrums bekommt das Szenario auch den Charakter einer Fallstudie. Da entdeckt jemand einen Rest von Lebensgefühl in einem System, das individuelle Gedanken und Emotionen gewaltsam verkümmern lässt, und stellt damit die herrschenden Verhältnisse in Frage. Dieser Winston Smith ist kein mutiger Zeitgenosse, der dramatisch opponiert. Und so lässt ihn auch Dominik Müller ängstlich tastend und oft sehr angespannt nach einem Freiraum forschen. Da scheint es noch einen Rest von Eigenleben zu geben, den der lauernde „Big Brother“-Blick offenbar nicht erfasst und für seine Zwecke manipuliert. Es gibt Orte, an denen noch ein Rest von Geschichte und Geschichtsbewusstsein erfahrbar wird und wo es nicht zu politischen Manipulationen kommt. Vielleicht gibt es sogar Bündnisgefährten, die diesem devot funktionierenden Beamten des „Ministeriums für Wahrheit“ auf dem Weg in die politische Opposition bestärken könnten, der immer wieder in Panikstimmung gerät, dass er von den so genannten „Gedankenpolizei“ als „Gedankenverbrecher“ entlarvt wird.

Percussive Sounds durchdringen die Bühnenatmosphäre, wenn sich die Gestalt im blauen Overall belauert fühlt, ängstlich duckt oder am Boden krümmt, um sich dann mit einem wütenden Ausbruch auch wieder Luft zu verschaffen und einen Raum für die Sehnsucht nach Nähe, Zuneigung und Verständigung, die ihr schließlich gewaltsam ausgetrieben wird. Immer wieder bekunden die Amtsträger des großen Bruders als Lautsprecherstimmen die normative Staatsraison und wie der Einzelne sich dazu zu stellen hat, dass Freiheit Knechtschaft sei und Unwissenheit Stärke, denen sich dieser unbeugsamer Sinnsucher allen Ängsten und Zweifeln zum Trotz mehr und mehr verweigert.

Mit dem schmalen Steg und den beiden Videoleinwandbarrikaden hat Bühnenbildnerin Sonja Elena Schröder auch den idealen Raum für die Gedanken- und Erinnerungsodyssee eines Sinnsuchers geschaffen, der auch mit seinen Selbstzweifeln kämpft und sich dabei beobachtet. Als Chronist dieses totalitären Überwachungsstaates begegnet Dominik Müller seinem Spiegelbild auf der Leinwand, wie sein Winston Smith argumentiert, analysiert und oft nicht weiterweiß, um dann selbst zur Kamera zu greifen und sich einer Nahaufnahme zu stellen. Die fragt, wer bin ich wirklich und wer kann ich überhaupt noch sein, wenn mir das Denken und Fühlen verboten wird.

In diesen Nahaufnahmen entwickelt die Inszenierung von Franziska Detrez ihre empathische Wirkung, die in der dramatischen Chronik mitunter verblasst. Kraftvoll, aber oft auch angespannt lässt Dominik Müller seinen Winston Smith gegen die Verhältnisse und die Vernichtung humanistischer Ressourcen hadern und kämpfen, und das oft auch in den Gücks- und Schmerzmomenten, die in einer kontemplativen Stimmung vielleicht mehr von dessen Verletzlichkeit spürbar werden lassen, die nur selten durchdringt. Die atmosphärischen Sounds und auch die Kommandostimmen verstärken das Horrorszenario, das Orwell in seinem Roman imaginierte, vor allem illustrativ. Auch sie lassen kaum einen Moment der Stille zu, in dem die Gedankenechos des Textes wirksam werden, um in der Fantasie der ZuschauerInnen den aktuellen Big Brother Horror zu verstärken. Gleichwohl feierte ein begeistertes Premierenpublikum Dominik Müller, Franziska Detrez und Sonja Elena Schröder für ein bewegendes Schauspiel.

 

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