Das Begegnungskonzert des Domknabenchors Helsinki Cantores Minores am 12. Juni in der vollbesetzten St. Jacobi-Kirche wurde zum Höhepunkt der 70. internationalen Konzerttournee des Chores – und zu einem Ereignis, das Zuhörer und Mitwirkende tief bewegte.
Schon vor Konzertbeginn deutete sich die Besonderheit des Abends an: Für die vielen Besucher:innen mussten zusätzliche Stühle aufgestellt werden. Ein besseres Bild für die Strahlkraft dieses finnischen Spitzenensembles lässt sich kaum finden.
Vielschichtiger Auftakt und hohe Präzision
Die Eröffnung zog der Chor mit Viadanas „Exsultate, justi“ ein. Die Wiedergabe geriet klar und leuchtend. Der polyphone Satz aus der Frühzeit des Barock erhielt durch die jungen Stimmen eine klangliche Frische, die der alten Musik gutstand.
Es folgte Bachs „Singet dem Herrn ein neues Lied“ – ein Prüfstein für jeden Chor. Der komplexe doppelchörige Satz ist eine Herausforderung selbst für etablierte Vokalensembles. Trotz technischer Souveränität wirkte die Interpretation in Teilen überambitioniert: besonders in der fugierten Passage „Alles was Odem hat“ zeigte sich, dass selbst ein exzellent geschulter Knabenchor mit dem Werk an seine Grenzen stoßen kann. Die Energie war groß, doch bisweilen hätte der polyphone Klang an Klarheit gewinnen können.
Zeitgenössisches auf höchstem Niveau
Dagegen beeindruckte die internationale Erstaufführung von Jan Sandströms „I Saw the Water“: ein atmosphärisch dichtes Auftragswerk, das mit seinen fast körperlich spürbaren Klangflächen auf „mmh“ und einem leuchtenden Schluss („Hallelujah!“) zu einem Höhepunkt des Abends wurde.
Auch das 2024 entstandene „De profundis“ von Markus Fagerudd zeigte eindrucksvoll die Vielseitigkeit des Chores: Im ersten Teil bestachen Cluster und geschichtete Dissonanzen durch ihre Spannung; der zweite Teil geriet zwar konventioneller, wurde aber klangschön gestaltet, mit starken Soli in Sopran und Tenor.
Mendelssohns „Denn er hat seinen Engeln befohlen“ war eine Wohltat fürs Ohr: mit feiner Dynamik gesungen, zeichneten sich die Sopranstimmen durch engelsgleiche Leichtigkeit aus – eine Demonstration chorischer Klangkultur.
Klangfarben zwischen Romantik und Mystik
Brahms’ „Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz“ brachte tiefe Innerlichkeit. Die doppelchörige Struktur wurde mit hoher Konzentration bewältigt; nur gelegentlich hätte man sich mehr Transparenz in der Stimmführung gewünscht. Dafür überzeugte Arvo Pärts „The Deer’s Cry“ durch Ruhe und meditative Spannung – ein musikalisches Gebet, getragen von stiller Intensität.
Mit Toivo Kuulas „Auringon noustessa“ schließlich erklang ein finnisches Chorjuwel: Dunkle, romantische Klangfarben, eine starke Männerchorpassage und eine dramatisch aufgebaute Schlusssteigerung machten das selten zu hörende Werk zum expressiven Ausrufezeichen.
Musikalischer Schulterschluss & Gänsehautmoment
Ein besonders berührender Moment war die gemeinsame Aufführung von Mendelssohns „Verleih uns Frieden“ mit dem Göttinger Knabenchor: 100 junge Stimmen aus Finnland und Deutschland vereint – musikalisch präzise, klanglich überwältigend. Die Bitte um Frieden, vorgetragen mit solcher Überzeugung und Wärme, ließ das Publikum förmlich den Atem anhalten.
Rahmen & Nachklang
Begleitet wurde der Abend durch Orgelimprovisationen und eine Toccata von Dietrich Buxtehude, kunstvoll interpretiert von Olli Saari. Als Zugabe erklang „Finlandia“ von Jean Sibelius – a cappella gesungen, tief empfunden, als musikalischer Gruß an die Heimat und symbolischer Abschluss eines herausragenden Abends.
Cantores Minores bewiesen auch in Göttingen, warum sie zu den besten Knabenchören Europas zählen. Ihre Mischung aus Tradition, Innovationsfreude und musikalischer Disziplin machte dieses Konzert zu einem eindrucksvollen Brückenschlag zwischen Kulturen, Generationen und Epochen.
Ein Abend, der nicht nur musikalisch begeisterte, sondern in seiner Botschaft und Gestaltung nachhallte – weit über St. Jacobi hinaus.