Stellen Sie sich vor, Sie gehen ein paar Schritte. Plötzlich prallen Sie gegen etwas Unsichtbares. Hart, glatt und kalt. Sie tasten und fühlen, doch bemerken recht schnell: es gibt kein Durchkommen. Vor Ihnen steht eine Wand, die Sie von allem trennt, was einmal alltägliches Leben war. Kein Geräusch ist zu hören und keine Menschenseele ist dahinter zu sehen. Die Welt, die Sie kannten, ist auf einen begrenzen Raum geschrumpft: Was würden Sie tun?
Isolation und Überleben
»Die Wand« nach dem Roman von Marlen Haushofers und in der Bühnenfassung für das dt.2 von Daniel Foerster macht genau diese Erfahrung am Premierenabend des 7. Junis zum Ausgangspunkt. Die Protagonistin, eine Frau mittleren Alters, gespielt von Marie Seiser, findet sich am Morgen allein in der Jagdhütte ihrer Cousine und deren Mann wieder. Diese sind am Abend zuvor nicht zurückgekehrt. Sie scheint von der Außenwelt getrennt worden zu sein, denn vor ihr befindet sich eine endlose, unsichtbare Wand. Dahinter deutet nichts mehr auf Leben hin und auch das Überwinden der Wand wirkt unmöglich. Ihr bleiben lediglich, der auch zurückgelassene Hund Luchs, eine zugelaufene Katze und eine Kuh. Mit der plötzlichen Isolation beginnt für sie ein Kampf ums Überleben und gegen sich selbst.
Mittendrin statt nur dabei: ein ungewöhnlicher Bühnenauftakt
Schon beim Betreten des Saals erlebt das Publikum die beengende Atmosphäre hautnah. Die Zuschauer:innen werden (vorübergehend) in den durch Holzwände abgrenzten Vorraum der Bühne geführt und ins Geschehen geworfen. Die Schauspielerin steht mitten unter Ihnen und beginnt zu erzählen. Ein intensiver Monolog, der durch das Spiel von Hund (Gerd Zink) und Katze (Lou von Gündell) zu einer lebendigen Geschichte wird.
Entwicklung von Grund auf
Nach und nach entfaltet sich das innere Erleben der Protagonistin eindringlich und bruchlos in einem Strom aus Gedanken. Dabei wird sichtbar, wie sehr sich ihr Leben von Grund auf verändert hat. Die Frau, die in der vorherigen Welt in eine Rolle gedrängt worden war, muss ihren Platz nun neu definieren, denn sie ist auf sich allein gestellt. Szenisch wird diese Entwicklung eindrucksvoll präsentiert: Sie pflanzt Kartoffeln, hackt Holz, schießt Wild und nimmt es anschließend aus, alles mit den bloßen Händen; allein. In dieser Konzentration auf das fürs Überleben notwendige entsteht eine spannende Form der Achtsamkeit und der Würde gegenüber der Natur die Marie Seiser mit einer beeindruckenden Intensität zur Geltung bringen kann. Besonders wirkungsvolle Sätze wie „der Wald will nicht, dass die Menschen zurückkommen“ regen dabei zum Nachdenken an und bieten viel Interpretationsspielraum.
Starke Inszenierung zwischen Ernst und feinem Humor
Die facettenreiche Darstellung ihres Charakters gelingt Seiser hervorragend. Mal hoffnungsvoll, mal des Lebens überdrüssig, mal selbstbestimmt. Doch immer mit dem Gedanken, an ihre tierischen Gefährten, die versorgt werden müssen. Lou von Gündell und Gerd Zink geben dabei eine überaus authentische Darstellung von Katz und Hund ab, indem viel miaut, gebellt und geschnüffelt wird. Dabei wirkt es nie überzeichnet oder komisch, sondern genau richtig dosiert. Zumal die beiden auch stetig die Rollen wechseln: Gündell schlüpft mal in die Rolle der Kuh, Zink übernimmt die Rolle eines Kalbes. Mit feinem Humor sorgen sie für unerwartete Momente, die das Publikum zum Schmunzeln bringen, ohne die Ernsthaftigkeit der Handlung zu mindern.
Die knapp zwei Stunden vergehen dabei wie im Nu – getragen durch eine beständig gehaltene Spannung. Es wechseln sich intensive, bedrohliche Passagen mit stillen, nachdenklichen fast flüsternden Momenten ab, die das Gefühlschaos der Protagonistin für das Publikum greifbar machen und am Ende einen großen Applaus mit Standing Ovations bewirkten.
Nach dem Applaus bleibt Raum für Interpretation
»Die Wand« ist daher ein intensives Theatererlebnis, das mit beeindruckender Schauspielkunst einem einfachem, aber kreativen Bühnenbild und einer durchdachten Inszenierung tief berührt und zahlreiche Gedanken anstößt: Über die Natur und den Umgang mit ihr ebenso wie über gesellschaftliche Rollenbilder und Erwartungen. Gleichzeitig vermittelt das Stück aber auch tröstliche Botschaften: Das Leben findet immer einen Weg und der Kreislauf der Natur bleibt ungebrochen, ganz gleich, wie sehr der Mensch versucht ihn zu beeinflussen. Ein Theaterabend, der lange nachhallt, viel Raum für eigene Interpretation lässt und den Besuch unbedingt wert ist.