Das Konzert der Internationalen Händel-Festspiele »Göttingen 1853« nimmt die Zuhörer:innen mit in das Jahr 1853, in dessen Sommer die Begegnung zweier junger Musiker in Göttingen zu einer musikalischen Kollaboration erwuchs.
Der junge Violinist Joseph Joachim ist seit gut einem halben Jahr Konzertmeister der Hofkapelle in Hannover, als er sich am 4. Juni 1853 nach Göttingen begibt, um dort während der konzertfreien Sommerzeit Vorlesungen an der Universität zu besuchen. Bereits zehn Tage nach seiner Ankunft immatrikuliert er sich für die Philosophie. Ein fleißiger, wissbegieriger Student wie man später über ihn berichtet. Zur selben Zeit führt es auch den damals 20-jährigen Johannes Brahms, der sich gerade auf Konzertreise mit dem ungarischen Geiger Eduard Reményi befindet, nach Göttingen. Brahms stattet Joachim auf der Durchreise einen kurzen Besuch ab, um dann gemeinsam mit Reményi nach Weimar weiterzuziehen. Das in Weimar geplante Treffen mit Franz Liszt fällt für Brahms jedoch eher ernüchternd aus und er beschließt daraufhin, Joachim für ein paar Wochen in Göttingen zu besuchen. Nach einem kurzen Briefwechsel kommt Brahms Ende Juli 1853 wieder nach Göttingen und wohnt bis Ende August bei Joachim im Nikolausberger Weg.
In genau diese Zeit der musikalischen Synergie zwischen Joachim und Brahms entführte »Göttingen 1853« 171 Jahre später das Publikum in der Aula am Wilhelmsplatz. Shunske Sato an der Violine und Shuann Chai am Klavier schlüpften dabei in die Rollen von Joachim und Brahms und begeisterten das Publikum mit einer Auswahl von Werken, die sowohl den musikalischen Zeitgeist dieser historischen Begegnung als auch Joachims persönlichen Stil widerspiegelten. Angereichert wurde die musikalische Darbietung mit Anekdoten und Hintergrundinformationen präsentiert von Wolfgang Sandberger, dem Leiter des Brahms-Instituts der Musikhochschule Lübeck.
Der Abend beginnt mit einer der bekanntesten Chaconnen. Solistisch spielt Shunske Sato den 5. Satz von Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 2 d-Moll (BMV 1004). Das Stück sei bereits damals eins von Joseph Joachims Paradestücken gewesen und habe auch heute noch Maßstabwert für alle jungen Violinist:innen, erzählt Sandberger. Ein Maßstab, an dem sich Shunske Sato zweifelsohne mit scheinbarer Leichtigkeit und Bravour messen kann. Sato gelingt es, seine Violine mal sanft und anmutig, dann wieder kraftvoll und mächtig klingen zu lassen. So erscheint es im Publikum sitzend erstaunlich, dass sich dort auf der Bühne wirklich nur der Solist Sato und nicht doch ein ganzes Streichensemble befindet. Melodien und Modulationen greifen ineinander und verweben sich zu einem konzertanten Klang. Überall im Publikum ist bewunderndes, ungläubiges Kopfschütteln über diese virtuose Meisterleistung zu sehen. Shunske Sato hat sich in die Spielweise von Joseph Joachim über lange Zeit eingearbeitet und sie adaptiert. Typisch für Joachim war zum Beispiel das Spielen der Violine mit wenig Vibrato und Ornamenten. Sato berichtet, die Spielweise von Joachim einzuüben, sei wie das Lernen einer ganz neuen Sprache gewesen.
Das zweite Stück stammt von Joseph Joachim selbst. Shunske Sato und Shuann Chai spielen Joachims 1852 erschienene Romanze op. 2 Nr. 1 in B-Dur und harmonieren dabei ausgezeichnet miteinander.
Das dritte Stück, Mozarts Violinsonate in B-Dur (KV 454), erscheint von Sato und Chai gespielt fast wie ein Gespräch zwischen Klavier und Violine. Durch die drei Sätze hinweg (Largo.Allegro – Andante – Allegretto) sind sich Klavier und Violine dabei nicht immer einer Meinung. Mal scheinen sie harmonisch miteinander in Symbiose zu gehen, dann wiederum liefern sie sich ein Wortgefecht und freche, spielerische Läufe wechseln durch die Stimmen. Im Sommer 1853 widmeten sich auch Joachim und Brahms diesem Stück und präsentierten es bei einer Soiree.
Nach einer kurzen Pause spielen Sato und Chai die Violinsonate in A-Dur von Georg Friedrich Händel (HWV 361). Wieder ein Stück, das durch rasante Läufe und Doppelgriffe dem Violinisten ein hohes Maß an Virtuosität abverlangt. Auch diese Herausforderung meistert Sato mit erstaunlicher Fingerfertigkeit, ohne dabei Abstriche in Sachen Feinfühligkeit zu machen.
Ein Höhepunkt der Konzerte im Sommer 1853 war die bei einer Soiree von Joachim und dem Universitäts-Musikdirektor Wehner vorgetragene Kreutzer-Sonate von Ludwig van Beethoven (Sonate op. 47 in A-Dur). Mit diesem Stück führen Sato und Chai das offizielle Programm dieses Abends zu Ende. Nach langem Applaus und einer kleinen Zugabe schließen die Musiker:innen zufälligerweise im Gleichklang mit dem Glockenschlag der Kirchturmuhr. Da müssen auch Sato, Chai und das Publikum schmunzeln.
»Göttingen 1853« war ein Abend voller Anekdoten und musikalischer Ausflüge, der einen wahrlich hat eintauchen lassen in das Wirken von Joseph Joachim und den musikalischen Zauber des Sommers 1853.