Nach dem Eröffnungskonzert am vergangenen Sonnabend und dem Gastspiel des Ensembles Quinton haben die 33. Internationalen Fredener Musiktage am Montag einen Kinotag eingelegt. Am Dienstag wurde das Festival mit einem Konzert des Ensembles BachVokalWerk aus Salzburg fortgesetzt.
Mobiles Kino im Ballsaal
Passend zum Thema „Zwanzigerjahre“ standen am Montag zwei Filme aus dem Jahr 1926 auf dem Programm: „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ von Lotte Reiniger und Fritz Langs monumentaler Stummfilm „Metropolis“. Freden hat längst kein Kino mehr, doch konnte der Ballsaal des Hotels Steinhoff als Vorführraum dienen, Vorführer der Filme war das Mobile Kino Niedersachsen aus Oldenburg. Beide Filme sind Marksteine der Filmgeschichte. Für „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ – eine aus Motiven der Märchen aus Tausendundeiner Nacht kompilierte Geschichte – hat Lotte Reiniger (1899-1981) in drei Jahren Arbeit rund 300 000 Scherenschnitte handgefertigt, daraus ist der erste erhaltene abendfüllende Animationsfilm entstanden. Erst im Jahre 1999 gelang es, das Original zu rekonstruieren: eine poetische Geschichte mit dem Zauberpferd und Aladins Wunderlampe, die den Märchenzauber der eigenen Kindheit mit schönen Bildern wiederbelebt.
Auch von „Metropolis“ gab es zunächst nur eine verstümmelte Fassung. Denn die Uraufführung des Films (1926) war derart schlecht beim Publikum angekommen, dass ihn Regisseur Fritz Lang nur durch brutale Kürzungen retten zu können meinte. Nur durch mehrere glückliche Zufälle gelang es, den ursprünglichen Film wieder herzustellen. Zum einen fanden sich in den 1970er-Jahren im Schwedischen Filminstitut Stockholm in einem Kasten mit unsortierten Zensurkarten die lange verschollenen originalen deutschen Zwischentitel und Texte, die einer Zensurbehörde hatten vorgelegt werden müssen. Vorher gab es nur Rückübersetzungen aus einer englischen Filmfassung. Dazu tauchte 2008 in Buenos Aires im „Museo del Cine Pablo C. Ducrós Hicken“ eine 16-Millimeter-Kopie des Films auf, in der auch die von Lang getilgten Passagen enthalten waren. All dies wurde in die von der Murnau-Stiftung vorgenommene Rekonstruktion der Premierenfassung eingearbeitet, die 2011 erstmals in die Kinos kam und nun auch auf DVD und Blu-ray erhältlich ist.
Auch wenn manche Passagen dieses Films geradezu bodenlos sentimental sind und seine Botschaft eigentlich befremdlich simpel, fasziniert „Metropolis“ durch seine eindringliche Bildsprache, durch die futuristische Architektur und nicht zuletzt durch die Schauspielkunst etwa von Brigitte Helm, Heinrich George und Fritz Rasp. Spannend ist es auch, der Filmmusik von Gottfried Huppertz konzentrierter zuzuhören und dabei ausführliche Zitate des „Dies irae“ und der Marseillaise zu vernehmen.
BachWerkVokal in Winzenburg
Aufführungsstätte des Konzerts am Montag war die katholische Kirche Mariä Geburt in Winzenheim, wenige Kilometer östlich der Fredener Zehntscheune gelegen: ein derart überdimensionierter Bau, dass die Kirche den Spitznamen „Winzenburger Dom“ bekommen hat. Das Ensemble BachWerkVokal Salzburg präsentierte dort ein Programm, das perfekt auf das Festspielmotto „Zwanzigerjahre“ zugeschnitten war.
Im Mittelpunkt des Konzerts stand eine Uraufführung: eine kollektive Improvisation des Ensembles auf den Text „Ex tempore 2024 – Wenn etwas seine Form verliert“ der Salzburger Schriftstellerin und Kunsttherapeutin Anja Bachl. Symmetrisch um dieses zeitgenössische Zentrum waren Kompositionen von Arnold Schönberg und Igor Strawinsky aus den mittleren 1920er-Jahren angeordnet, dann Kompositionen von Franz Schubert und Ludwig van Beethoven aus den 1820er Jahren sowie zwei 1725 entstandene Kantaten von Johann Sebastian Bach. Den Anfang und den Schluss bildeten zwei Motetten von Heinrich Schütz aus dem Jahr 1625.
BachWerkVokal: Das ist ein gemischtes Vokal- und Instrumentalensemble, das von Gordon Safari geleitet wird und sich der historischen Aufführungspraxis verschrieben hat. Die Größe des Ensembles richtet sich nach den Notwendigkeiten der aufgeführten Werke. Nach Winzenburg waren fünf Vokalisten und sieben Instrumentalisten gekommen.
Die fünf Sängerinnen und Sänger waren sowohl mit solistischen wie mit chorischen Aufgaben betraut. Ihre individuellen Stimmfarben sind allerdings recht unterschiedlich: unaufdringlich voluminös der helle Sopran von Electra Lochhead, etwas zart der Altus von Jaro Kirchgeßner, Alexander Hüttners Tenor in exponierten Lagen bisweilen scharf, dagegen angenehm weich und schön fundiert die Bassstimmen von Jakob Hoffmann und Nils Tavella. Für solistische Passagen, etwa die Rezitative und Arien der Bach-Kantaten, ist das kein Problem – wenn die fünf Stimmen allerdings im Chor zu singen haben, müssten sich die Sängerinnen und Sänger um einen farblichen Ausgleich bemühen, um einen homogeneren Klang zu erzeugen. Das war nicht immer der Fall.
Doch hatten sie sich auf die Ausdrucksanforderungen der stilistisch verschiedenartigen Werke gründlich vorbereitet, was etwa in dem eher linealischen Klang der Schütz-Motetten zu beobachten war, in der feinen Ausarbeitung der rhetorischen Figuren in den Bach-Kantaten und in der expressiven Gestaltung der im freien Sinne religiösen, aber nicht spezifisch christlichen Botschaften der Vokalquartette von Beethoven und Schubert. Spannend die Schönbergschen Chorsatiren op. 28, in denen sich der Komponist satztechnisch raffiniert mit dem Widerstreit zwischen tonaler und atonaler Musik auseinandersetzt, ungewöhnlich weit in die musikalische Vergangenheit zurückblickend Strawinsky in seiner Pater-noster-Vertonung, in der gleichwohl manche unerwartete harmonische Wendung die Entstehungszeit verrät.
Die Improvisation „Wenn etwas seine Form verliert“ stand als längstes und sperrigstes Werk im Zentrum des Abends. In ihrem Text reiht Anja Bachl – 2021 mit dem Georg-Trakl-Förderungspreis für Lyrik ausgezeichnet –fragmentarische Sätze aneinander. Sie greifen immer wieder den im Titel genannten Gedanken in abgewandelter Form auf, dazwischen enthalten sie aber auch ungewöhnliche Ideen, etwa „zwischen jetzt und dann / liegt eine ganze Welt / deine ganze Welt“ oder „wie eine Zwiebel / mich aus mir selbst schälen“.
Die Sängerinnen und Sänger ordnen diese Sätze in unterschiedlichen rhythmischen Konstellationen, lassen sie gern als Ostinato im Hintergrund weiter laufen und schmücken sie mit kleinen Melodien aus, sorgen für aufregende dynamische Kontraste. Daraus wird dann so etwas wie eine gesprochene Kurzoper, in der die Gedanken einen Freiraum zum Nachsinnen erhalten. Am Ende wird der thematische Satz „Wenn etwas seine Form verliert“ in kollektivem Diminuendo so unaufhörlich wiederholt, dass man ihn zu Beginn der Pause immer noch weiter zu vernehmen meinte.
Vielleicht war das so fein ausgeklügelte Programm des Abends zu theorielastig, auch zu kleinteilig – hier und da hätte es schon ein wenig genussfreudiger sein können und in Fluss kommen dürfen. Aber anregend war dieses ungewöhnliche Konzert auf jeden Fall. Das kommentierten die zahlreichen Besucher mit lang anhaltendem, begeistertem Applaus.