Das war er, der Literaturherbst. Noch im Nachklingen des fulminanten Programms entsteht dieser Text. Er soll mehr sein als eine Rezension ausgewählter Werke. Dieser Text soll einen Impuls für erpichte Leser*innen und noch-immer-Hungrige nach literarischer Vielschichtigkeit anbieten. Zugrunde liegt der Eindruck, dass es Veranstaltungsreihen dieser Art schaffen, aus Büchern nicht nur singuläre Themenaufschläge zu extrahieren, sondern durch die Begegnung vieler verschiedener Perspektiven eine Synergie entstehen kann, die für sich selbst betrachtet, eine intellektuelle Schaffenskraft innehat. Diesem Phänomen wird im Folgenden anhand einiger ausgewählter feministischer Texte nachgespürt.
Im Rahmen dieses Schreibprozesses erklärte sich die Programmplanerin Gesa Husemann zu einem Interview bereit. Sie findet anregende Worte für den auch als Teilnehmerin spürbaren Geist des Literaturherbstes: „Der Literaturherbst steht ganz klar im Zeichen des Miteinanders. Wir setzen auf den Dialog, auf Vielfalt, laden Leute ein, um zu diskutieren, Standpunkte zu vertreten, die aber mit diesen in den empathischen Austausch gehen und so gegebenenfalls verfestigte Annahmen überdacht werden. […] Ganz wichtig bei der Programmarbeit ist immer das Sprechen mit Leuten. Und damit meine ich nicht nur die Personen, die in den Verlagen arbeiten, sondern vor allem auch Menschen im Umfeld. Was treibt sie gerade um, was hören sie, was lesen sie, wem folgen sie. So kristallisieren sich Personen und Themen heraus, und wenn sich so gewonnene Erkenntnisse dann auch noch mit den Dingen deckt, die man selbst gerade so denkt und mit bestimmten Angeboten des Buchmarktes, dann hat man schon mal eine Auswahl, mit der man gut arbeiten kann.“
Damit geht es um die Vielfalt der Stimmen. Lässt man zu, dass sich in einem und um einen herum ein Netz aus Neuem, Provokantem und endlich Lautem spannt, ist man nicht nur wacher in der Welt, sondern bringt sich selbst in die Lage einer selbstbestimmten Aufklärung. Erlaubt man Büchern, nicht nur isoliert dazustehen und ihre Inhalte einzeln zu tragen, sondern sie miteinander in Austausch zu bringen – mit ihren Schaffer:innen, ihren Protagonist:innen, und ihren Blicken auf die Welt –, dann gewinnt das eigene Denken, Lesen und Meinen an neuer Qualität. In Zeiten, in denen rechte Strömungen zunehmen, ist es entscheidend, das eigene Wissen zu stärken und die Fähigkeit zu bewahren, konstruktiv am demokratischen Diskurs teilzunehmen. So bleibt die eigene Stimme gefestigt und widerstandsfähig gegen Desinformation und Hetze. Durch den aktiven Perspektivwechsel bleibt man fit im Verstehen, Interessiert und zugewandt, im nicht verstehen.
Steven Vertovec »Superdiversität« (22. Oktober in der Paulinerkirche)
Vertovecs Konzept der Superdiversität liefert eine tiefgreifende Analyse der gesellschaftlichen Komplexität und zeigt neue Wege auf, wie wir uns dieser Herausforderung stellen können. Der Begriff der Superdiversität geht weit über das Verständnis einer „vielfältigen Gesellschaft“ hinaus und legt den Fokus auf die vielschichtigen und sich überlappenden Kategorien menschlicher Identität. Anstatt die Gesellschaft als statisches „Mosaik“ verschiedener Gruppen zu sehen, wird die Realität als dynamisches, sich ständig wandelndes Netzwerk von Überschneidungen und Interaktionen dargestellt. Diese Perspektive zwingt uns, alte Denkmuster zu hinterfragen – wie etwa das des „Groupism“, also die Tendenz, Individuen starr in festgelegte Gruppen zu kategorisieren. Indem wir diese Denkmuster hinter uns lassen, können wir ein tieferes Verständnis für die soziale Komplexität entwickeln, die sich durch unzählige Lebensdimensionen zieht und uns in einem prismenhaften Wechselspiel unserer eigenen Identitäten spiegelt. Das berühmte Zitat von Chimamanda Ngozi Adichie, „The Danger of a Single Story“, erinnert uns daran, dass die Reduktion auf eine einzige Erzählung oder Identität einer Person nicht nur gefährlich, sondern auch irreführend ist. Wenn wir uns dieser Vielfalt in uns selbst bewusstwerden, können wir auch die Diversität in anderen besser erkennen und schätzen.
Leider ist das Verständnis für die zunehmende „Diversifizierung“ der Gesellschaft noch immer gering. Politiker und Medien nutzen dieses Unwissen oft, um Ängste zu schüren, indem sie ein Bild zeichnen, in dem der Erfolg einer Gruppe automatisch den Verlust von Ressourcen für andere bedeutet. Diese Art der Polarisierung, die eine „Nullsummen-Mentalität“ fördert, steht im krassen Widerspruch zur Realität der Superdiversität, die uns zeigt, dass menschliche Identität keine festen Grenzen kennt, sondern sich vielmehr ständig weiterentwickelt.
Um in einer wirklich vielfältigen und dynamischen Gesellschaft zu leben, müssen wir den Denkrahmen von Rassifizierung, ethnischen Hierarchien und starren Gruppenzugehörigkeiten überwinden. Superdiversität lehrt uns, dass soziale Komplexität nicht in statischen Kategorien gefangen ist, sondern in den fluiden und oft überlappenden Lebensrealitäten, die uns als Individuen ausmachen. Sie fordert uns auf, offener, empathischer und flexibler zu sein – sowohl in unserer Selbstwahrnehmung als auch in unserer Wahrnehmung der Gesellschaft um uns herum.
Christina Clemm und Laura Leupi: »Gegen Frauenhass und sexualisierte Gewalt«
(19. Oktober, Altes Rathaus)
Mit Vertovecs Ansatz also wird nun in den Werken von Laura Leupi, Christina Clemm, dem LIQUID COLLECTIV, Mareike Fallwickl und Shila Behjat nach der Vielfalt in uns gesucht.
Schon im Vorwort von Laura Leupis Buch „Alphabet der sexualisierten Gewalt“ wird die Frage gestellt, welchen Beitrag kann Literatur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt bieten?“. Das Thema des Buches ist damit gesetzt und bietet schon einen ersten Ankerpunkt auch für die Lektüre der hier folgenden Bücher. Leupi hätte diese Frage vielleicht zusammengefasst beantwortet mit: Einen Raum zu schaffen für die eigene Geschichte, verwoben mit so vielen anderen Geschichten, anderen Gleichzeitigkeiten, geteilter und doch individueller Zeitrechnung- nein Erzählung.
Auf obskure Art ist ihr ein ganz besonderes Nachschlagewerk gelungen. Verirrende Einwürfe manchmal, die aber doch so sehr berühren, in der eigenen Verletzbarkeit und in der intimen Übertragung der geschilderten Verletzbarkeit, dass ein sich Entwirren keine Option ist. Mit welchen Erwartungen man dieses Buch lesen kann, fällt schwer zu beurteilen. Es sind viele Häppchen, die der Leserin angeboten werden, Metaebene, Lyrik und dann wieder die schlichte Sprache von Trauma? Ist es ein Eintauchen in Trauma? Ist es eigentlich eine triste Gesellschaftsanalyse des Hier und Jetzt und Überall und Jeder:mensch? Leupi vermittelt eindringlichst das Gefühl der raumfüllenden Größe von sexualisierter Gewalt. Wie sie auch im Schlusswort schreibt, trägt jeder Mensch das eigene Alphabet mit eigenen Lemmata mit sich. Sie stößt mit ihrem Schreiben und ihren Verflechtungen große Prozesse an, die genauso reingeworfen anfangen und enden oder pausieren wie ihre Textfelder. Ein durchaus herausfordernder Takt, der nicht ohne Anstrengung vollbracht wird. Aber mit ihren pointierten Aphorismen hier und da bebt das Buch förmlich nach. Eine wichtige Errungenschaft ist Leupi damit gelungen, denn was wenn nicht Beben braucht die gesellschaftliche Beschäftigung mit sexualisierter Gewalt? Leupi will mit ihrer Belebung der Gegenstände deutlich machen, dass sexuelle Missbräuche sich verdinglichen und hängen bleiben in dem Zuhause, was eigentlich der sicherste Ort sein soll, oft aber eben der gefährlichste Ort für Frauen ist. „Das Zuhause“ werden dann die einzelnen Möbel und das Interieur, dass die Gewalt speichert und nicht vergisst.
Im Rahmen des Literaturherbstes wurde sich dafür entschieden, Leupis Werk mit Christina Clemms „Gegen Frauenhass“ zu diskutieren. Moderiert von Onyeka Oshionowu entstandt, trotz Leupis krankheitsbedingter Abwesenheit, ein pointiertes und fundiertes Bild der beiden Perpsektiven auf geschlechtsspezifische Gewalt. Clemm argumentiert in ihrem Werk anhand verschiedener Fallbeispiele und aus ihrer Position als Fachanwältin für Familien- und Strafrecht.
Clemm, die als Anwältin und Autorin Sprachrohr und Frontkämpferin für Betroffene ist und Leupi, die autofiktional die Sprachlosigkeit und doch schreiend die Perspektive einer betroffenen Person zeichnet, begegnen sich in genau dieser Herausforderung: Wie kann/ muss/ wird über geschlechtsspezifische Gewalt gesprochen? Clemm führt in der Diskussion an, dass der Fall der Pelicot in Frankreich ganz wichtig und laut ist. Ja, die Scham muss die Seiten wechseln. Auch Leupi fordert, dass alle das Schweigen brechen- insbesondere alle außer den Betroffenen. Aber Clemm gibt auch zu bedenken, dass Gewalt an Frauen/ geschlechtsspezifische Gewalt nicht nur dieses Extrem des Falles Pelicot bedeutet. Gewalt ist Alltag. Das heißt sie findet immer und überall statt. So betont Clemm: „Die Narrative über das Alltägliche müssen sich wandeln“. Die Objektifizierung von nicht männlichen Personen muss aufhören, Victimblaming und Slutshaming zum Beispiel.
Leupi und Clemm erkennen die Omnipräsenz patriarchaler Gewalt und das permanente Unsichtbarmachen derselben. Dieses Unsichtbarmachen drückt sich zum einen darin aus, dass Betroffene laut Clemm „Angst haben müssen, nicht mehr ernst genommen zu werden“. Leupi schreibt von einer Unabgeschlossenheit der Gewalt an Frauen. Welch dramatische Aussage, eine permanente Gefahrenlage, die in all ihrer Wucht das Sprechen über sie behindert, weil wo soll man anfangen, wo soll man aufhören? Trotz der Omnipräsenz, so Leupis Sinnbild, wurde noch keine Sprache dafür gefunden, sie angemessen zu beschreiben.
Julia Wolf | Yade Yasemin Önder »wir kommen«
(23. Oktober, Altes Rathaus)
Das Überthema der Sprachfindung wird auch in dem Werk des LIQUID COLLECTIVS „wir kommen“ bearbeitet. Nun ist Beweglichkeit im Denken gefordert: Wo Clemm und Leupi das Schlaglicht auf die enttabuisierte Besprechung von geschlechtsspezifischer Gewalt geworfen haben, nähert sich das Kollektiv von einer ganz anderen Seite an. Jede Autor:in schreibt mit und über ihre Scham, über weibliches Begehren, weibliche Lust, Frau*werden und das Alter. Aber auch in ihren Erzählungen wird immer wieder von Gewalterfahrungen berichtet. Alle drei nun zusammen gedacht, bringt mindestens die eigentlich rhetorische Frage auf: Gibt es kein Frau*werden ohne Gewalterfahrung?
Wir kommen fühlt sich auf den ersten Seiten schon wie eine nährende Umarmung an.
Die Lebe, die in dieses Buch und den gemeinsamen Austausch geflossen sein muss, wird in dem filigranen Arrangement der Textpassagen spürbar. Es ist ein unausweichliches Buch, verwöhnt mit niedergeschriebenen Kollektiverinnerungen, die endlich Dasein dürfen. Verblüfft, amüsiert und inspiriert zu neuem, unbekannten und unbedachtem. ein ganz wichtiger Beitrag, um die Vielfalt von nicht männlichen Erfahrungen, gelüsten und Entwicklungen abzubilden. Eine Einladung, sich im Sprechen zu begegnen und dadurch trennende Tabus abzubauen.
Dieses Buch hilft auch mit sich selbst tiefer zu gehen und so aus der Vereinzelung herauszufinden und die Struktur hinter den eigenen Erfahrungen zu erkennen.
Die Methode des anonymisierten Schreibens half den Autor*innen selbst sich mit ihrer Scham auseinanderzusetzen und teilweise freier schreiben zu können, als sie es unter ihrem Klarnamen geschafft hätten. Und dennoch wirft diese Herangehensweise Fragen auf: Warum würde man sein tiefstes Inneres nicht teilen können? Was ist die Gefahr daran, wenn das außen um das innen weiß?
Was beschützt die Scham?
Welchen Unterschied macht es ein Gesicht zu einer Selbstoffenbarung zu haben? Auch Leupis autofiktionale Protagonist*in fragt, nachdem sie sich selbst offenbart hat: „wer bin ich jetzt für euch?“.Ist diese Scham schon Missbrauch, schon Frauenhass- Narrative des Alltags die verändert werden müssen? Gibt es weibliche Selbstoffenbarungen die frei sind von systemischen/ strukturellen Erfahrungen?
Mareike Fallwickl »Und alle so still«
(21. Oktober, Altes Rathaus)
Eine Sprachlosigkeit im Angesicht der Ablehnung wird hier deutlich. Der tiefverankerte Frauenhass produziert Gewalt und hemmt die Produktion der Konteraktionen. Gegen die strukturell produzierte Sprachlosigkeit arbeitet sich auch Mareike Fallwickl in ihrem Schreiben. Ihr im Rahmen des Literaturherbstes vorgestelltes Buch „Alle so still“ porträtiert das Potenzial einer stummen Rebellion. Eine Rebellion von Frauen gegen das sie allumfassend ausbeutende System- in dem sie verweigern. In dem sie verstummen, in dem sie einfach liegen bleiben. So bekommt Sprachlosigkeit eine neue Qualität. Ist sie ein selbstgewähltes Mittel, um tausendfach Gesagtem den finalen Nachdruck zu verleihen? Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass ein letzter Paukenschlag im Kampf um Gleichberechtigung und gegen strukturellen Machtmissbrauch, das Ausschalten, Runterfahren ist? Wie begegnen sich Leupi und Fallwickl, wenn die eine so unbedingt nach Worten für ihr Erleben sucht und die andere Performance anstelle von Sprache postuliert?
„Bei Mareike Fallwickl geht es um den Stellenwert von bezahlter und unbezahlter Carearbeit. Sie wagt ein drastisches Gedankenexperiment der Rebellion, bei dem man am Ende gar nicht weiß, ob das jetzt eigentlich eine Utopie oder Dystopie ist bei der Gewalt, die durch diesen Boykott der Carearbeit ausgelöst wird.
Shila Bejat | Madita Oeming »Söhne großziehen als Feministin«
(21. Oktober, Altes Rathaus)
Die gebotene Aufmerksamkeit für das Thema Gewalt gegen Frauen fordern Christina Clemm und Laura Leupi, während Shila Behjat in ihrem Buch „Söhne großziehen als Feministin“ den Herausforderungen und Zwiespältigkeiten nachgeht, die ihr als Feministin und Mutter von Söhnen begegnet. Proklamierte Eindeutigkeiten werden in all diesen Büchern hinterfragt.“ , so Husemann.
Leider waren auch in dieser Veranstaltung der Anteil an männlich gelesenen Personen verschwindend gering. Daher soll gerade ein Appell von Fallwickl an die Männerschaft an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben werden. Männer bildet euch. Feministisches Wissen ist überall verfügbar und es ist noch kein Feminist vom Himmel gefallen- es braucht umfassende Bildung! Hört zu- hört Frauen, Nonbinären und Transpersonen aufrichtig zu. Und letztlich – checkt eure Privilegien. Übernehmt schonungslose Verantwortung für Euer Handeln und auch das Handeln eurer Freunde und Familie. Greift ein, wenn ihr übergriffiges Verhalten beobachtet. Noch zählt ein „Nein“ eines Mannes leider in Gewaltsituationen eben im Zweifel mehr als ein Nein einer Frau*. Nutzt diese Kraft.
Fallwickl zeigt kraftvoll, wie Frauen durch bloße Verweigerung ein ungerechtes System ins Wanken bringen könnten. Heldinnen müssen nicht aktiv die Welt retten – Frauen tun bereits seit Generationen Heldinnenhaftes, indem sie täglich Ungerechtigkeit ertragen und bekämpfen.
Auch Männer könnten sich durch einfache Verweigerung für Veränderung einsetzen: den Auftritt absagen, wenn keine Frauen präsent sind, Gehaltserhöhungen ablehnen, solange Frauen nicht gleich bezahlt werden, sexistische Kommentare nicht unterstützen.
Auch Shila Behjat hätte sich vermutlich von Fallwickels Appell an die Männerschaft angesprochen gefühlt. In ihrem Buch thematisiert sie ihren Alltag als Mutter von zwei Söhnen, PoC und feministisch geprägte Frau. Doch was macht „Söhne großziehen als Feministin: Ein Streitgespräch mit mir selbst“ wirklich neu? Die feministische Positionierung wirkt oft nicht besonders avantgardistisch und teilweise sogar unterkomplex. Die zentrale Frage des Titels weckt sicherlich Erwartungen und bewegt – wie zieht eine Feministin Söhne groß? Hier könnten versöhnliche Antworten folgen, die beruhigen und klarmachen, dass Feministinnen keineswegs Männer ablehnen. Aber die Frage könnte auch revolutionär beantwortet werden und bestehende Genderkonzepte radikal herausfordern.
Tatsächlich bietet das Buch ein anschauliches Porträt, das sicher viele Lebensrealitäten widerspiegelt, und beleuchtet migrantische Erfahrungen von strukturellem Rassismus sowie intersektionelle Diskriminierung auf einem alltagsnahen Niveau. Dabei werden jedoch oft schon überholte identitätspolitische Polemiken wieder aufgewärmt, was den Aussagen an Schlagkraft nimmt. Argumente, die auf veralteten Prämissen und Denkmustern beruhen verfehlen ihren Effekt, weil sie nicht mehr zeitgemäß wirken.
Trotzdem hat das Buch erfrischende Züge, fast wie ein Angebot zur Beichte. Behjat gelingt es, offen und verletzlich über ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse zu reflektieren, die sowohl private als auch strukturelle Ebenen ansprechen. Obwohl sie bisher noch keine wirklich revolutionären Positionen oder überraschend neuen Ansätze darlegen konnte, vermittelt sie den Mut zur Selbstreflexion. Das Buch erweist sich als wertvolle Hilfe zur Selbstreflektion und als bedeutendes Zeitdokument, das die oft widersprüchlichen Fragen einer Feministin in der heutigen Gesellschaft sichtbar macht. Behjat schafft es, den Leserinnen Raum zu bieten, sich mit den eigenen Dissonanzen auseinanderzusetzen und sich selbst ehrlicher zu hinterfragen.
Damit leistet Behjat einen wertvollen Beitrag zu aktuellen feministischen Debatten. Ein Grundgedanke allerdings entsteht aus dem, was dieses Buch ausklammert: Am Ende will sich doch der Feminismus eigentlich selbst abschaffen, indem mit ihm eine gleichberechtigte Gesellschaft erkämpft wurde – kann man in der Kindererziehung daher nicht von genau diesem Ideal aus kommen und die Kinder zu demokratiefähigen, gerechten und aufgeklärten Menschen erziehen, denen die Fähigkeit zur eigenen Reflektion und Meinungsbildung mitgegeben wurde? Ist dieses Bestreben nicht im Zweifel unpolitisch und schadet eine politische Aufladung dieser Erziehungsideale nicht eher dem gemeinsamen Ziel?
Das Thema Sprachlosigkeit – das Schweigen, Verstummen oder zum Schweigen gebracht werden – steht im Zentrum vieler feministischer Debatten. Wer übernimmt die Verantwortung? Frauen* können sich wirkungsvoll solidarisieren und ihre Stimmen erheben. Männer sollten sich bilden, ihren Einfluss reflektieren und gegebenenfalls abgeben. Doch wie gibt man feministische Werte an die nächste Generation weiter, ohne Vorurteile zu reproduzieren? Wie widersteht man als Elternteil den strukturellen Indoktrinationen?
In einer vielfältigen, komplexen Gesellschaft braucht es den Mut und das Engagement aller. Jede*r bringt unterschiedliche Ressourcen, Herausforderungen und Lebensentwürfe mit. Der Austausch zwischen diesen Perspektiven bricht alte Dogmen auf und kann über das gemeinsame Sprechen hinaus, Scham überwinden und Raum für Liebe und Akzeptanz schaffen.
So kann dieses Beispiel feministischer Literatur zeigen, wie wertvoll multiperspektivische Buchrezeption sein kann. Sie fördern nicht nur das eigene Sinnverständnis, sondern öffnen neue Fragen an die Welt – und an die Literatur selbst.