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Gedenktafel Agathe von Siebold am Göttinger Accouchierhaus | © Photo: Schäfer
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Musikgeschichte(n) aus Göttingen

Ein goldener Schein über einem ganzen Leben

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Agathe von Siebold und Johannes Brahms
von Michael Schäfer, erschienen am 25. Juni 2020

An der Nordseite des Accouchierhauses (Bild 1) am Geismartor hängt eine Gedenktafel (Bild 2) mit der Aufschrift „Dem Andenken der in diesem Hause / am 5. Juli 1835 geborenen / Agathe von Siebold / Johannes Brahms’ Jugendliebe / Die Deutsche Brahms-Gesellschaft / 1935“. Wer war diese Agathe? Jugendliebe ist ja nicht unbedingt ein Beruf.

In dieser Folge erzählt uns Michael Schäfer von Agathe und Siebold und Johannes Brahms.

Das Elternhaus

Beginnen wir mit dem Vater. Der war seines Berufes wegen in dieses Haus gezogen. Französisch „accoucher“ heißt auf Deutsch „gebären“, ein Accouchierhaus ist also eine geburtshilfliche Klinik. Eduard Carl Caspar Jacob Joseph von Siebold, geboren 1801 in Würzburg (Bild 3) hatte in Berlin und Göttingen Medizin studiert, sich nach Staatsexamen und Promotion 1827 für Geburtshilfe habilitiert – mit 26 Jahren also, Chapeau! – und war von 1829 an Professor der Geburtshilfe in Marburg. 1833 folgte er dem Ruf nach Göttingen, wo er bis zu seinem Tod 1861 blieb. Das Accouchierhaus, 1786 bis 1790 von Universitätsbaumeister Georg Heinrich Borheck errichtet, war der erste Neubau einer Universitätsgebärklinik im deutschen Sprachraum, nach den damals aktuellsten Erkenntnissen auf viel Licht und Luft ausgerichtet. (Bild 4) (Bild 5) (Bild 6) Siebold bezog mit seiner Frau eine Wohnung in der zweiten Etage. 1829 hatte er in Berlin Wilhelmine Nöldechen geheiratet, die ersten beiden Kinder, zwei Söhne, waren früh gestorben. Doch die gesunde Luft im Accouchierhaus war wohl dem Familienglück förderlich: In Göttingen wurde 1834 Tochter Josephine geboren, 1835 Tochter Agathe. (Bild 7)

Das alles hat, zugegebenermaßen, noch nichts mit Musik zu tun. Doch spielte Musik in der Sieboldschen Familie durchaus eine Rolle. Vater Eduard, der Gynäkologe, wurde „in früher Jugend schon in der Musik unterrichtet, sodass er sich bereits als neunjähriger Knabe mit dem C-Dur-Konzert von Joh. Sterkel auf dem Flügel öffentlich hören lassen konnte“, wie Emil Michelmann in seinem 1929 herausgekommenen Buch über Agathe von Siebold berichtet. Hier eine Youtube-Aufnahme dieses Konzerts: Wenn ein Neunjähriger diesen Part spielt, kann man schon ein wenig staunen. Dazu lernte Eduard später das Violinspiel sowie bei einem Stadttambour das Trommelschlagen. Michelmann: „Von jener Zeit her ist ihm, so erzählte er, die Liebe für diese ,Fell- und Rasselinstrumente‘ bis in sein spätes Alter geblieben. Die Pauke wurde sein Lieblingsinstrument.“ Eine schöne Abwechslung für einen Frauenarzt, der zur Erholung mal mit Schlägeln statt mit geburtshilflichen Zangen hantieren durfte.

Hausmusik in Göttingen

Das war beileibe nicht die einzige Verbindung der Siebolds zur Musik. Denn es gab um diese Zeit in Göttingen eine blühende Hausmusik-Szene, die Hans Küntzel in seinem Buch über Agathe von Siebold (erschienen 2003 bei Steidl) auch im Stadtbild verortet. Hier seine Liste der Zentren der Göttinger Hausmusikpflege Mitte des 19. Jahrhunderts, erweitert um die Adressen der Professorentöchter, die zu dieser Zeit dem von Musiklehrer Julius Otto Grimm geleiteten Chor angehörten. Grimm hatte Brahms vor allem die Frauenstimmen für Chorkompositionen ans Herz gelegt: „Schöne Stimmen, die in sehr lieben Mädchen beheimatet sind“:

  • Geiststraße 3: Jacob Henle, Anatom und Amateurcellist
  • Nachbarhaus: Heinrich Thöl, Jurist, mit einer sehr gut klavierspielenden Ehefrau
  • Mühlenstraße 1: Peter Gustav Lejeune-Dirichlet (Mathematiker und Astronom, Nachfolger von Gauß), verheiratet mit Rebekka Mendelssohn Bartholdy, der Schwester Felix Mendelssohns, mit Tochter Flora
  • Mühlenstraße: Wilhelm Baum, Chirurg, verheiratet mit Marie Guenther, zwei Töchter (Tochter Auguste singt) und ein Sohn, der später Flora Dirichlet heiratete,
  • ebenfalls Mühlenstraße: Karl Ewald Hasse, Pathologe, Tochter Marianne singt
  • Weender Straße 77: Christian Friedrich Mühlenbruch (Jurist), Tochter Hedwig singt
  • Weender Straße 80: Gotthelf Kirsten (Obergerichtsrat), Töchter Emmy und Alwine (singt und spielt Klavier)
  • Reinhäuser Landstraße 6: Heinrich Zachariae (Staatsrechtler), Tochter Agnes singt
  • Kurze Straße 2: Rudolph Wagner (Physiologe und Zoologe), verheiratet mit Rosa Henke, Söhne Adolph und Hermann, Töchter Berta und Sophie, beide singen
  • Untere Karspüle 2: Friedrich Gottlieb Bartling (Direktor des Botanischen Gartens), Klavierspieler, Töchter Adelheid, Marie und Jenny
  • Untere Maschstraße 18: Hermann Sauppe (Philologe), Tochter Hedwig singt
  • Kurze Geismarstraße 40 (heute: 1): Eduard von Siebold (Gynäkologe), verheiratet mit Wilhelmine Nöldechen, zwei Töchter Josephine (genannt Pemma) und Agathe, beide singen
  • Hospitalstraße 7: Friedrich Wöhler (Chemiker) , Töchter Fanny, Helene, Pauline und Emilie singen
  • Ritterplan 419: Wilhelm Ritmüller (Klavierfabrikant), verheiratet mit Eleonore Freise, Tochter Philippine, in ihrem Saal gab es regelmäßig öffentliche Konzerte
  • Ritterplan 418: Julius Otto Grimm (Musiklehrer, später Professor für Musik in Münster, genannt Ise [wg. Isegrim]), verheiratet mit Philippine (genannte Pine, auch Pine Gur) Ritmüller, Sohn Johannes Joachim (Patensohn von Johannes Brahms und Joseph Joachim)

Dies ist wahrlich eine respektable Sammlung von Professorentöchtern (auch von Söhnen, natürlich). Was Rebekka Dirichlet (Bild 8) über eine Aufführung des Singspiels „Die Heimkehr aus der Fremde“ ihres Bruders Felix schreibt, kennzeichnet die Atmosphäre solcher Hauskonzerte aufs Allerschönste: „Die Ensemblestücke gingen so hübsch und das Ganze hatte solchen Zug und Leben, dass es mir selbst Vergnügen gemacht hat. Die beiden Soli im Chor, die beiden Sieboldschen Mädchen, was zweitens sehr hübsch aussah und erstens auch allerliebst klang. Zuletzt Abendbrot und zwei Kardinalbowlen [eine Bowle aus Weißwein, Zucker und Orangen] und ungeheure Dankbarkeit; ausgedrückt durch furchtbares Essen und Trinken und mehrere Professorentoaste: Wirt, Gäste, Sänger, Musik, alles Mögliche. Die Proben waren das Netteste, wie die Musik ihnen so einging und lieb wurde und wie wir dabei so gut Freund wurden.“

Besuch von außerhalb: Freundschaften

Diese illustre, fröhliche Gesellschaft wurde kurz nach 1850 – wie im ersten Beitrag dieser Reihe „Musikgeschichte(n) aus Göttingen“ über das Ritmüllersche Haus bereits angerissen – durch den Kontakt mit einigen musikalischen Berühmtheiten dieser Zeit entscheidend bereichert. Drei Personen sorgten dabei für die Initialzündung: die beiden Geiger Eduard Reményi (Bild 9) Joseph Joachim (Bild 10) Joachim sowie der junge Pianist Johannes Brahms (Bild 11), der gerade zu komponieren begonnen hatte. Reményi und Brahms waren im April 1853 zu einer Konzerttournee aufgebrochen, die sie von Hamburg über Winsen an der Luhe, Lüneburg und Celle nach Hannover führte. In Hannover besuchte Reményi am 12. Mai 1853 seinen Kollegen Joachim, der dort im Januar Konzertmeister am Hoforchester geworden war, und stellte ihm seinen Klavierbegleiter Brahms vor, der fünf Tage zuvor gerade 20 Jahre alt geworden war. Joachim staunte über die Kompositionen, die ihm der junge Mann auf dem Klavier vorspielte.

Knapp drei Wochen später meldete das „Göttingische Wochenblatt“, es seien am 4. Juni „Künstler Brahms aus Hamburg und Reweny [sic!] a. New York“ in der Stadt angekommen, dazu auch „Concertmeister Joachim a. Hannover“. Joachim wollte an der Universität Göttingen seine Allgemeinbildung aufbessern. Dazu hatte ihm Mendelssohn geraten, der in Leipzig den jungen Violinvirtuosen kennengelernt hatte. Dessen Geigenspiel bewunderte er aufrichtig, doch bemerkte er rasch, dass Joachim jenseits der Musik nur wenig gelernt hatte. Deshalb riet er ihm, seine Bildung zu vervollkommnen. Diesen Rat nahm Joachim an – und nutzte mit Genehmigung seines Dienstherrn die spielfreie Sommerzeit, um an der Landesuniversität Vorlesungen zu hören. Brahms und Reményi wollten weiter nach Weimar zu Franz Liszt. Dafür gab ihnen Joachim ein Empfehlungsschreiben mit.

Beim Weimarer Zusammentreffen zwischen Brahms und Liszt hat es wohl überhaupt nicht gefunkt, der Besuch hatte keinerlei Folgen für die spätere Brahms-Biografie. Und auch Brahms’ Kontakt mit Reményi brach in Weimar ab. Doch Brahms wollte unbedingt seinen Freund Joachim in Göttingen wiedersehen. Der lud ihn zu sich ein – er wohnte im sogenannten Krügerschen Gartenhaus, Nikolausberger Weg 21, bei Buchhändler Vogel (Bild 12). Brahms blieb zwei Sommermonate bei Joachim: „eine lebenslange, nur vorübergehend überschattete Freundschaft, die beide Musiker in ihrer künstlerischen Entwicklung entscheidend prägte“, wie Hans Küntzel in seinem Agathe-Buch formuliert. Zur zeitweiligen Überschattung hatte Joachims Scheidung von seiner Frau Amalie Schneeweiss im Jahre 1884 geführt, verursacht durch eine krankhafte, grundlose Eifersucht des Ehemannes. Diesen Schritt nahm Brahms seinem Freund übel, doch näherten sich die beiden später wieder einander an.

Agathe wird flügge

Aber wo bleibt Agathe? Langsam, langsam. In diesem ersten Göttinger Sommer war sie ja gerade erst 18 Jahre alt, zwei Jahre jünger als Brahms. Sie war schlicht noch nicht in seinen Gesichtskreis getreten – und hatte allerdings trotz ihrer Jugend schon eine kurzzeitige Liaison hinter sich: 1852 hatte sie sich mit dem amerikanischen Rechtsanwalt William Dingle verlobt, bald aber – wohl aus Schwärmerei für Joseph Joachim, der nun öfter von Hannover nach Göttingen reiste – diese Verlobung wieder gelöst. Brahms arbeitete derweil öfters in Detmold, wo er als Pianist, Chorleiter und Klavierlehrer am Fürstenhof angestellt war. Immer wieder schmiedeten Brahms, Grimm und Joachim Pläne, einander wiederzusehen. Im Frühjahr 1858 nahm Julius Otto Grimm (Bild 13) die Sache in die Hand: Er wollte endlich alle Freunde im Sommer wieder einmal um sich scharen, neben Brahms und Joachim auch Clara Schumann (Bild 14), deren Ehemann Robert 1856 gestorben war und die seit Langem eine herzliche Beziehung zu Brahms unterhielt.

Ende Juli kam Brahms in Göttingen an und blieb im August und September im Kreise seiner Freunde: „Der Kongress wird rasch vollzählig sein“, schrieb er an Grimm. Zu diesem „Kongress“ gehörten der Joachim-Schüler Friedemann Bach (ein Nachfahre des Thomaskantors), der Musiker Woldemar Bargiel – Stiefbruder von Clara Schumann – und Carl Bargheer, ebenfalls ein Musiker. Clara Schumann reiste bereits am 26. Juli in Göttingen an und brachte fünf ihrer sieben Kinder mit, die sie ja nicht allein lassen konnte: Marie, Elise, Julie, Eugenie und Felix. Die beiden kleinsten Söhne Ludwig und Ferdinand hatte sie in Jena untergebracht. Die sechs Schumanns wohnten im Hause Ritmüller. Philippine „spielte voller Anmut die Wirtin und umsorgte Frau Clara und ihre kleine Gesellschaft, von Gathe, ihrer besten Freundin, liebevoll unterstützt. Agathe von Siebold gehörte ja zum Grimmschen Hause“, schreibt Emil Michelmann.

Ganz zwanglos also waren Johannes und Agathe einander nähergekommen. Clara verfolgte das nicht unbedingt entzückt: „Sie hatte scharfe Augen, die dem Spiel der jungen und verliebten Leute nur mit gemischten Gefühlen folgten.“ (Michelmann). Das Wort „Spiel“ ist hier ganz unschuldig gemeint, Michelmann erwähnt in seiner Agathe-Biografie Verstecken, Blindekuh und ein Pfänderspiel, berichtet von Ausflügen „ins Holz“, wo man sich ins Moos legte und Lieder anstimmte. „Und wenn die sangesfrohe Schar die Wälder durchstreifte, kamen Johannes und Gathe oft nur schwer mit und folgten ihr ferne im tiefen Gespräch“, erzählt Michelmann. Offenbar war die Beziehung enger geworden – was Clara schließlich so sehr verdross, dass sie Mitte September mit ihren Kindern abreiste. „Brahms aber blieb“, setzt Michelmann kurz und bedeutungsschwer hinzu.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt

Dieser Sommer blieb für Agathe eine ihrer schönsten Erinnerungen überhaupt. Im Alter berichtete sie für ihre Kinder unter dem Titel „Allerlei aus meinem Leben“ aus dieser Zeit und schrieb: „Ich nenne die Namen derer, die mir am nächsten standen, Johannes Brahms, Joseph Joachim und Clara Schumann, Carl Barheer, Julius Hey usw. Es waren herrliche Zeiten, die ich besonders mit den beiden Erstgenannten genoss. Eine Fülle von Großem und Schönem ging von ihnen aus, und außer dem, dass sie ihr Bestes gaben – denn eigentlich hatte ihnen die Natur ja nur das Beste verliehen – haben sie auch im Verkehr mein kleines Talent gewürdigt, mit mir musiziert. Ich darf wohl sagen, von jener Zeit her hat sich ein goldener Schein über mein ganzes weiteres Leben ergossen, und bis jetzt, bis in mein spätes Alter ist mir etwas von dem Glanz jener unvergesslichen Zeit geblieben. Johannes Brahms habe ich sehr lieb gehabt und er mich für kurze Zeit. Als uns die Verhältnisse trennten, habe ich lange getrauert, und als ich überwunden hatte, habe ich doch nicht vergessen, sondern in der Erinnerung alle die schönen Tage des Jahres 58 festgehalten. Es waren das so wunderbar schöne Erlebnisse, jeder Tag der goldenen Sommerszeit brachte neue Freunden.“

Die Leiden, die folgten, deutete Agathe nur an. Der gemeinsame Sommer dauerte bis Ende September 1858. Dann riefen dienstliche Pflichten Brahms zurück nach Detmold. Von dort aus führte einen intensiven Briefwechsel mit Gathe, Pine und Ise, dem er immer wieder Kompositionen für Agathe beilegte, in erster Linie Lieder. Zu Neujahr 1859 fuhr er abermals nach Göttingen, um sich hier in Ruhe auf die Uraufführung seines d-Moll-Klavierkonzerts vorzubereiten, die für den 22. Januar in Hannover unter der Leitung von Joseph Joachim angesetzt war. Agathe beschreibt in ihren Erinnerungen dieses Glück: „Er liebte das Mädchen, und sie war überselig, überschwänglich froh und glücklich. Sie wähnte ihn sich eigen in unwandelbarer Liebe. Sie war so stolz auf ihn, auf seine Größe, die er ihr für kurze Zeit ganz und gar zu eigen gab. Sein Schaffen galt in dieser Zeit nur ihr und ihrer großen Liebe, die ihn zu hohem Tun anspornte und begeisterte.“ Johannes und Agathe tauschen Verlobungsringe. (Bild 15

Grimm war dies alles natürlich nicht verborgen geblieben. Deshalb mahnte er Brahms, er müsse sich erklären, klare Verhältnisse schaffen. Diesen Brief hat Agathe mit wenigen Worten zusammengefasst. Sie schreibt: „Die Antwort kam: Ich liebe Dich! Ich muss Dich wiedersehen! Aber Fesseln tragen kann ich nicht! Schreibe mir, ob ich wieder kommen soll, Dich in meine Arme zu schließen.“ Und Agathe setzt hinzu: „Da kämpfte das Mädchen einen harten Kampf, den schwersten ihres Lebens. […] Die Pflicht und die Ehre siegten. Das Mädchen schrieb den Scheidebrief und weinte jahrelang über ihr gestorbenes Glück.“

Lehrerin und Ehefrau

Als Agathe (Bild 16) diesen Scheidebrief schrieb, war sie noch nicht 23 Jahre alt, das ganze Leben lag noch vor ihr. Im Dezember 1863 verlässt sie Göttingen. Sie wird Privatlehrerin (finishing governess) auf einem Gut im Westen Irlands in Newpark, kehrt zweieinhalb Jahre später nach Göttingen zurück und geht als Lehrerin an die Höhere Töchterschule Friedrich Schwerdtfegers, wo sie Unterricht in den Fächern Englisch, Italienisch und Gesang erteilt. 1868 heiratet sie in der Johanniskirche den Göttinger praktischen Arzt Dr. Carl Schütte, der 1861 ihren Vater auf dem Sterbebett behandelt hatte. (Bild 17). Am Abend vor ihrer Hochzeit verbrennt sie alle Andenken an Brahms und verschenkt die Lieder, die er ihr gesandt hatte. Schütte ist vier Jahre älter als sie. Zunächst wohnen sie in der Barfüßerstraße 10, kaufen einige Jahre später das Haus Kurze Straße 2 (Bild 18), in dem zuvor der Physiologe Rudolph Wagner gewohnt hatte. Die Hausnummer 2 steht bei Michelmann, die Gedenktafel für Wagner freilich hängt heute am Haus Kurze Straße 3. Wer hier irrt(e), muss noch recherchiert werden. (Bild 19) Das Ehepaar bekommt vier Kinder: die Tochter Antonie, genannt Toni (Jahrgang 1870), den Sohn Eduard (1872), die zweite Tochter Agathe (1873) und den jüngsten Sohn Oskar (1875). 1887 stirbt Schütte, ein angesehener Mediziner im Range eines Sanitätsrates. 22 Jahre lang ist Agathe Witwe, zieht sich aber nicht in die Einsamkeit zurück, sondern führt ein gastfreies Haus, „in dem vor allem die Liebhaber der Musik verkehrten“, wie Traudel Weber-Reich in ihrem Buch „Des Kennenlernens werth. Bedeutende Frauen Göttingens“ hervorhebt. Am 1. März 1909 stirbt Agathe Schütte, geborene von Siebold, im Alter von 73 Jahren. Begraben ist sie auf dem Göttinger Stadtfriedhof gemeinsam mit ihrer Tochter Agathe. (Bild 20)

Grenzen einer möglichen Karriere

Nimmt man den Stellenwert wahr, den Musik im Leben Agathes gespielt hat, muss man sich ein wenig wundern, dass sie mit ihrem sehr schönen Gesang so selten öffentlich aufgetreten ist. Die erhaltenen Urteile über ihre Fähigkeiten sind ausnehmend positiv, beginnend mit Rebekka Dirichlets Bemerkung über den „allerliebsten Klang“ der Stimmen der jungen Siebold-Schwestern. Im Juni 1857 trat sie in einem Hauskonzerts bei Dirichlets auf. Joseph Joachim hatte ihren „hohen, hellen, glockenreinen Sopran“ mit „einer Amatigeige“ verglichen, so Michelmann. Auf dem Programm standen unter anderem eine Arie die Italieners Niccolò Porpora und aus Händels Oratorium „Josua“ die Arie „O hätt’ ich Jubals Harf’“. Eine Aufnahme mit Agathe gibt es natürlich nicht, aber hier können Sie von Maria Stader hören, was Agathe damals bewältigte. Einen Monat später sang sie in der sonntäglichen Matinee im Ritmüllerschen Hause aus Haydns Schöpfung die Arie „Nun beut die Flur“, ihr Sängerinnen-Debüt in der Öffentlichkeit. Solche Auftritte setzte sie nach der Trennung von Brahms bisweilen fort – freilich stieß sie dabei auf den Widerstand ihres Vaters. Eduard von Siebold wollte nicht, „dass seine Tochter öffentlich gegen Entgelt sang“ (Michelmann). Als Grimm im Herbst 1860 Musikdirektor in Münster geworden war, holte er seine Schülerin Agathe schon ein halbes Jahr später für zwei Aufführungen nach Westfalen, einmal mit einer Arie von Stradella und drei Liedern von Grimm und Schubert, das zweite Mal mit einer Szene aus Glucks „Iphigenie in Tauris“ und drei Beethoven-Liedern. Das wiederholte sich Ende Januar 1863, als sie in Münster unter anderem zwei Schubert-Lieder sang. Noch sechs Jahre später schrieb der Kritiker des „Westfälischen Merkur“: „Das sang unsererzeit eine wohlerzogene Göttinger Professorentochter mit einem Frohlocken, einem Abandon [französisch: Hingabe, Ungezwungenheit], dass die guten Mütter darob erschraken.“

Ein zweites Mal im Leben wurde ihr die Musik versagt. Denn Agathes späterer Ehemann Carl Schütte war neidisch auf ihre Liebe zur Musik. „Er wollte, da er selbst zu wenig musikalisch war, anderen dieses Reich, in dem Agathe lebte, verschließen und war geneigt, in ihrer Cäcilia, der Unzertrennlichen, eine ernstliche Rivalin zu sehen. Er hat ihre Muse in einer Art von Eifersucht misstrauisch behandelt und hätte sie, die Vermittlerin zwischen Vergangenem und Gegenwart, am liebsten dem Hause ganz ferngehalten.“ (Michelmann)

Klingende Erinnerungen

Das ist eine traurige Liebesgeschichte, in der man für wenige Monate ein himmelhohes Jauchzen vernimmt, auf die Jahrzehnte ereignisarmer bürgerlicher Wohlanständigkeit folgen. Das wäre eigentlich eher eine Privatsache, auch wenn eine Person der Musikgeschichte darin eine Rolle spielt. Doch besitzen wir klingende Erinnerungen an den „Glanz jener unvergesslichen Zeit“, nämlich Lieder von Johannes Brahms, die er Agathe schenkte. Küntzel beschreibt das sehr treffend: „Auch Brahms hat dokumentiert, wie er diesen Spätsommer 1858 erlebt hat, und zwar in seinen Liedertexten, die sich oft wie ein geheimes Tagebuch lesen.“ So schreibt Brahms im September 1858 die Volkslieder op. 14 Nr. 1 (Vor dem Fenster) – hier in einer Aufnahme mit Ingeborg Danz und Helmut Deutsch –, Nr. 4 (ein Sonett aus dem 13. Jahrhundert) und Nr. 7 (Ständchen: „Gut Nacht, gut Nacht, mein lieber Schatz“), dazu die Duette op. 20 Nr. 1 und 2 („Weg der Liebe“, das erste Duett in einer Youtube-Aufnahme mit Federica von Stade und Judith Blegen hier) und das Lied op. 19 Nr. 1 (Der Kuss: „Unter Blüten des Mais spielt ich mit ihrer Hand“) – hier in einer Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau und Daniel Barenboim (1983). Eine weitere Huldigung an Agathe hat Brahms ein wenig versteckt. Im ersten Satz seines Streichsextetts op. 36 lässt er die erste Geige auf dem Höhepunkt einer lang angebahnten Steigerung dreimal hintereinander die Töne A – G – A – H – E spielen, wobei die zweite Geige dem H der ersten noch ein D beigesellt. Eine Oktave tiefer spielt die erste Bratsche diese Töne mit. Ein T ist nun mal in unserem Notensystem nicht existent. Hier ein Tonbeispiel mit dem erweiterten Amadeus-Quartett von 1967. Den dreimaligen Agathe-Ruf hören Sie etwa bei 2:50. (Ton-)Buchstabenandeutungen dieser Art hatte es zuvor vor allem bei Robert Schumann in Fülle gegeben. (Bild 21)

Über dieses Agathe-Motiv hat Brahms später geäußert: „Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht.“

Bildergalerie:

14 Clara Hanfstaengl05 Accouchierhaus Von Norden11 Brahms 185303 Eduard Von Siebold06 Treppenhaus07 Schwestern Siebold12 Gartenhaus04 Accouchierhaus Am Noch Nicht Niedergelegten Wall01 Accouchierhaus08 Rebekka 185318 Kurze Strae 302 Gedenk221 Brahms Sextett15 Brahms Mit Ring16 Agathe 186017 Carl Schtte09 Remnyi Ede19 Tafel Wagner20 Grab10 Joachim 185313 Grimm

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