Heimat der Familie: die Weinhandlung Bremer in der Oberen Karspüle
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Musikgeschichte(n) aus Göttingen

Seelenverwandtschaft von Wein und Musik

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Die Weinhändlerfamilie Bremer und die Göttinger Musikgeschichte
von Michael Schäfer, erschienen am 04. Juni 2020

In der zweiten Folge der „Musikgeschichte(n) aus Göttingen“ geht Michael Schäfer den vielfältigen Verbindungen der Weinhändlerfamilie Bremer und der Göttinger Musikgeschichte nach.

Göttingen ist eine sehr lebendige Musikstadt, keine Frage. Es gab und gibt viele Menschen hier, die selbst Musik machen, und noch mehr Menschen, die gern Musik hören. Ja selbst in dem von Nichtkennern der Szene als elitär verschrienen Bereich der klassischen Musik – ein unscharfer Begriff, genau wie die Bezeichnung „ernste Musik“. Nichts davon stimmt vollständig. „Ernst“ heißt nicht, dass diese Musik ihr Gesicht verliert, wenn sie unterhält oder gar unernst ist, „klassisch“ heißt nicht, dass sie in der Zeit der musikalischen Klassik entstanden sein muss. Diese E-Musik ist so geistvoll, so vielseitig, so lebenserfüllend, dass zu allen Zeiten Menschen ein Bedürfnis hatten, sie zu hören. Zu denen, die dieses Bedürfnis artikuliert und immer wieder unterstützt haben, gehört in Göttingen in ganz besonderer Weise die Familie Bremer. Dass sie seit acht Generationen für guten Wein sorgt, wissen viele. Wie viel sie mit Musik zu tun hat, soll dieser Beitrag deutlich machen.

Am 27. Juni 1786, also vor 234 Jahren, erteilte der Magistrat der Stadt Göttingen dem Weinhändler Johann Cordt Bremer Bild 01 Cordt die Konzession für ein Gasthaus und den dazugehörigen Weinhandel. Das war zu einer Zeit, als das Musikleben der jungen Universitätsstadt sich erst allmählich zu entwickeln begann. Aber im 19. Jahrhundert war das Bürgertum schon wesentlich emanzipierter. Musik war nicht mehr nur dem Adel vorbehalten. Als Johannes Brahms 1853 nach Göttingen kam – siehe die erste Folge der Musikgeschichten aus Göttingen –, fand er hier schon ein dichtes Netzwerk von Berufs- und Liebhabermusikern vor, zu dem er schnell Beziehungen knüpfte. Viele der Professorentöchter und -söhne machten Hausmusik, spielten Instrumente, sangen in Chören. Und viele der Professoren waren auch Kunden der Weinhändler Bremer. Eine dieser Verbindungslinien ist ein besonderer Glanzpunkt in Göttingens Musikleben dieser Epoche, die Romanze zwischen Johannes Brahms und der Professorentochter Agathe von Siebold Mitte der 1850er-Jahre.

Göttinger Symphonie-Orchester

Nur wenige Jahre nach der Brahmsschen Romanze, die leider kein Happy End erlebte, richtete die Göttinger Bürgerschaft am 16. Januar 1862 ein Gesuch an den Rat der Stadt, formuliert in wohlgesetzten Worten, handschriftlich eingereicht. Bild 02 Gesuch Es beginnt: „Einer der Haupt-Vorzüge des Wohnens in größeren Städten besteht in der Gelegenheit, gediegene Musik-Werke von tüchtigen Musikern vorgetragen zu hören.“ Das ist eine frühe Beschreibung der Eigenschaften, die die Attraktivität einer Stadt bestimmen und die man auf Neudeutsch gern „weiche Standortfaktoren“ nennt. Selbstverständlich hat die Bürgerschaft ordentlich begründet, für wen diese Vorzüge gelten: „Für die Jugend im hohen Grade anregend und bildend, findet darin der Geschäftsmann im reiferen Alter eine erquickende heilsame Erholung von seinen Anstrengungen, Mühen und Sorgen […].“ Den gerade definierten Haupt-Vorzug aber vermissen die Bürger: „Für Göttingen ist man berechtigt, eine bessere Musik zu fordern, als wir sie gegenwärtig haben.“ Der Hintergrund: Der Magistrat hatte die 1857 durch den Tod des Stadtmusikus Heinrich Wilhelm Jacobi verwaiste Stelle fünf Jahre lang unbesetzt gelassen. Der Schluss des Gesuchs: „Daher erlauben sich die unterzeichneten Bürger Göttingens […] diese Vorstellung zu überreichen mit der ergebensten Bitte: dass wie früher, so auch jetzt wieder ein tüchtiger Stadt-Musikus angestellt werden möge […], um ein tüchtiges städtisches Orchester wieder herzustellen.“ Bild 03 Unterschriften 

Der erste, der dieses Gesuch unterzeichnet hatte, war Weinhändler Eduard Bremer (1823-1873). Gleich unter ihm finden wir die Unterschrift von W. Ritmüller, dem Direktor der Pianofortefabrik am Ritterplan, unter ihm hat Fr. Bremer Senior unterschrieben, Eduards Vater Johann Friedrich Bremer (1786-1867). Er hatte 1833 das Grundstück in der Oberen Karspüle als „Sommersitz“ gekauft, in dem bis heute Mitglieder der Familie Bremer wohnen. Bild 04 Eduard Bremer Bild 05 Friedrich Bremer. Die beiden Bremers und Ritmüller befanden sich in bester Gesellschaft, wie beispielsweise die Unterschriften von C. Ruprecht (Carl, Verleger, 1821-1898), Wappäus (Johann Eduard, Geograph, 1812-1879) oder Ellissen (Adolf, Bibliothekar, ab 1865 Bürgermeister) zeigen. Das Gesuch hatte den gewünschten Erfolg: Mit der Einstellung des Stadtmusikus August Ferdinand Schmacht am 5. November 1862 nahm das Göttinger Musikleben wieder Fahrt auf. Schmachts Kapelle – Pflichtgröße laut Magistrats-Instruction 18 „brauchbare“ Musiker, die den Anforderungen einer Beethovenschen Symphonie genügen sollten – war die Keimzelle des späteren Göttinger Symphonie Orchesters. Insofern gehören Eduard und Friedrich Bremer in der Tat zu den Gründungsvätern des GSO.

Akademische Orchestervereinigung

Später wird der Name Bremer noch einmal in der GSO-Chronik auftauchen. Aber vorher tritt ein anderes Göttinger Orchester ins Bild, das ebenfalls mit dieser Familie verknüpft ist, nämlich die 1906 gegründete Akademische Orchester-Vereinigung (AOV), die auch gleich wieder mit dem Städtischen Orchester vernetzt war: Erster AOV-Dirigent von 1906 bis 1908 nämlich war Walter Mundry, dritter Nachfolger des eben erwähnten Stadtmusikus Schmacht. Die AOV stand von Anbeginn nicht nur den Akademikern der Universität, sondern auch Göttinger Bürgerinnen und Bürgern offen. So nimmt es nicht wunder, dass wir unter den AOV-Musikern des Jahres 1920 wieder einen Herrn namens Bremer finden. Es ist der 1899 geborene Georg Bremer, Enkel von Eduard und Urenkel von Friedrich Bremer, der sehr passabel Geige spielt und Mitglied dieses Orchesters ist. Auf dem AOV-Foto von 1922 Bild 06 AOV ist er gut zu erkennen: Er sitzt links außen auf der Mauer, rechts vor ihm steht Geheimrat Prof. D. Bertholet. Die genaue Datierung dieses Fotos verdanke ich der Göttingerin Erika Voigt, die eben dieses Foto aus dem Nachlass ihres Vaters kennt (hintere Reihe der Fünfte von rechts gleich neben den Stimmwirbeln des Kontrabasses, gehalten von Willi Rehkopf).

Georg Bremer (1899-1976) Bild 07 Georg gehörte also jenem Orchester an, das vor 100 Jahren am 26. Juni 1920 im Orchestergraben im Göttinger Stadttheater Bild 08 Theater mit Händel saß und unter der Leitung von Oskar Hagen mit der Aufführung von Händels „Rodelinde“ die Göttinger Händel-Festspiele begründete. Bis 1935 fungierte die AOV als Festspielorchester – dann genügte den gewachsenen Ansprüchen ein Orchester aus Liebhabermusikern nicht mehr. Dennoch spielte Musik im Leben der Bremers weiter eine wichtige Rolle.

Solisten und Ensembles

Das war gleich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu bemerken. Wie ich aus Gesprächen mit Ruth Bremer (Jahrgang 1928) Bild 09 Ruth weiß, stand in den frühen Nachkriegsjahren, als die Göttinger Hotellandschaft noch ziemlich am Boden lag, immer wieder das Haus Bremer in der Unteren Karspüle offen für Musikerinnen und Musiker, die hier als Solisten und Ensembles gastierten. Zu den Veranstaltern gehörten die Konzertdirektionen Kronbauer (gegründet 1908) und Weichert (gegründet 1949, 1962 mit Kronbauer zusammengeschlossen), und die Älteren von uns kennen vielleicht noch die Namen derer, die damals geschätzt wurden: Da tourten etwa die Pianistinnen Elly Ney Bild 10 und Monique Haas, der Cellist Enrico Mainardi https://interlude.hk">Bild 11, der zusammen mit Geiger Wolfgang Schneiderhan Bild 12 (Ehemann der Sopranistin Irmgard Seefried) und dem Pianisten Edwin Fischer ein Trio bildete, aus Italien kamen I Musici di Roma und I Virtuosi di Roma, das Quartetto Italiano und das Trio di Trieste, aus der Schweiz das Basler Kammerorchester unter Paul Sacher, aus Paris das Loewenguth-Quartett, aus Großbritannien das Maßstäbe setzende Amadeus-Quartett, aus Deutschland die Cembalistin Edith Picht-Axenfeld und das Koeckert-Quartett. Ruth Bremer erinnert sich begeistert an die zahlreichen Begegnungen dieser Jahre, etwa an den Violinisten Wolfgang Schneiderhan: „Ich weiß noch ganz genau, wie er einmal bei mir anrief. Ich sollte das Wasser für die Blumen (den Künstlerstrauß also) – vorbereiten.“ Für den Dirigenten Fritz Lehmann Bild 13 schwärmte sie ganz besonders. Sein tragischer Tod ging 1956 durch die Presse: Er starb am Karfreitag 1956 in München während einer Aufführung der Bachschen Matthäuspassion.

Dem Koeckert-Quartett, Bild 14-Quartett in der Zeit nach 1945 eines der führenden deutschen Streichquartette, das noch 1970 und 1977 in den Aulakonzerten gastierte, ist Familie Bremer auf besondere Weise verbunden. Denn Lilo Bremer (Jahrgang 1930), die Schwester von Ruth Bremer, wurde 1968 Ehefrau des Primarius Rudolf Koeckert (1913-2005) Bild 15 Koeckert. Der Musiker war neben seinen kammermusikalischen Aufgaben von 1949 bis 1979 Erster Konzertmeister des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Studiert hatte der im böhmischen Großpriesen geborene Geiger in der Meisterklasse des Prager Konservatoriums und war von 1939 bis 1945 während der Zeit der deutschen Besatzung der Tschechoslowakei Konzertmeister des Deutschen Philharmonischen Orchesters Prag. Nach Kriegsende 1945 gründeten frühere Mitglieder dieses Orchesters die Bamberger Symphoniker, ihnen gehörte Koeckert von 1947 bis 1949 ebenfalls als Konzertmeister an.

Deutsches Theater

In diese Zeit fällt die nächste Verbindung der Familie Bremer mit der Göttinger Musikszene. 1950 wurde am Stadttheater Göttingen die Sparte Oper und Operette aufgegeben. Intendant Fritz Lehmann hatte sich am 2. Juli 1950 mit Georges Bizets „Carmen“ Bild 16 Carmen-Ensemble verabschiedet und die mehr als 30-jährige Tradition einer eigenen und ständigen Oper in Göttingen beendet. Zwar behielt Lehmanns Nachfolger Heinz Hilpert Bild 17 – auf den die Umbenennung des Hauses in „Deutsches Theater“ zurückgeht – anfangs noch das Theaterorchester bei, das mit Günther Weißenborn Bild 18 einen neuen Dirigenten bekommen hatte. Doch schrieb am 14. Juni 1951 Heinz Hilpert einen Abschiedsbrief an die Mitglieder des Orchesters: „Sehr geehrte Damen und Herren! Es tut mir sehr leid, dass wir voneinander scheiden.“ Dies voraussehend, hatten sich am 22. April Orchestermusiker mit Günther Weißenborn und anderen Göttinger Bürgern getroffen, um vorzusorgen: Sie gründeten den Verein „Göttinger Symphonie-Orchester e. V.“ Was das mit der Familie Bremer zu tun hat? Ganz einfach: Zu den Beratungen über die Vereinsgründung hatte Weinhändler Georg Bremer – der AOV-Geiger aus der ersten „Rodelinde“ 1920 – dem neugegründeten Orchesterausschuss die Räume seiner Weinhandlung als Tagungsort zur Verfügung gestellt. Zwei Jahre später hat das GSO, wie oft in seiner Geschichte, Existenzsorgen. Göttinger Bürger verfassen einen „Appell in letzter Stunde“, den sie im Göttinger Tageblatt am 3. Dezember 1953 veröffentlichen. Sie ahnen inzwischen, wer zu den Unterzeichnern gehört: Richtig, in der Mitte ist zu lesen „G. Bremer, Kaufmann“ Bild 19. Und abermals befindet er sich in bester Gesellschaft: die Nobelpreisträger Werner Heisenberg und Otto Hahn (dessen Wein-Wünsche übrigens Ruth Bremer des Öfteren erfüllt hat) führen die Liste an.

Göttinger Kammermusikgesellschaft

Und auch 17 Jahre später finden wir wieder im Protokoll einer Gründungsversammlung Unterschriften der Familie Bremer. Man hatte sich zur Gründung der Göttinger Kammermusikgesellschaft im „Schwarzen Bären“ in der Kurzen Straße verabredet. Dorthin machten sich drei Bewohner der Oberen Karspüle 42 auf den Weg: Weinhändler Georg Bremer mit seiner Frau Marie-Luise zusammen mit Tochter Ruth. Sie haben auf der Anwesenheitsliste vom 21. Februar 1968 die Unterschriften 6, 7 und 8 geliefert Bild 20 Unterschriften, flankiert von Gertrud Runge, damals am Göttinger Tageblatt für die Berichterstattung über klassische Musik zuständig, und von Ilse Weichert, der Inhaberin der gleichnamigen Konzertdirektion. Auf die drei Bremers folgen die Unterschriften von Verleger Dietrich Ruprecht und seiner Frau Dorothea sowie 16 weiterer Göttinger Bürgerinnen und Bürger. So gehört auch die „Geburtsurkunde“ der Göttinger Aulakonzerte zu den Musik-Zeugnissen der Familie Bremer.

Händel-Festspiele zu Gast

Selbstverständlich wurde das 50-jährige Jubiläum der Göttinger Kammermusikgesellschaft 2018 in der Bremerschen Weinkellerei festlich begangen. Die Händel-Festspiele sind dort immer wieder zu Gast, als Gastgeber betreut von Seniorchef Georg Friedrich Bremer (Jahrgang 1940) Bild 21 oder seinem Sohn Philipp Bild 22 mit Veranstaltungen wie den „Händel-Talks“ Bild 23 und den Wein-Lesungen, mit Wein- und Käseabenden für das Ensemble der Händel-Opern oder mit Premieren-Empfängen, wie sich auch das Göttinger Symphonie Orchester und seine Dirigenten gern zu Konzert-Nachfeiern und ähnlichen Veranstaltungen ins Haus Bremer an der Karspüle begeben. Auch die nächste Generation der Familie Bremer ist der Musik aktiv zugeneigt. Weinhändler Philipp Bremer (Jahrgang 1968) und seine Ehefrau Mareike sind, sowie es ihre Zeit zulässt, Choristen in der Göttinger Stadtkantorei – die freilich derzeit coronabedingt pausieren muss.

Übrigens hat das Weinhaus Bremer seit langer Zeit auch einen ganz besonderen Wein im Sortiment: den „Händel-Wein“. Im Gebiet des Weindorfs Zappenberg – im Regenschatten des Harzes, klimatisch begünstigt durch die zahlreichen wärmespeichernden Seen dieser mansfeldischen Region – besaß Georg Friedrich Händels Vater einen Weinberg Bild 24 Weinberg, der seit 1999 wieder bewirtschaftet wird. Die Verbindung zwischen Wein und Musik ist also nicht auf Göttingen beschränkt, sondern offenbar eine Seelenverwandtschaft.

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