„Musikgeschichte(n) aus Göttingen“ heißt die neue Serie von Michael Schäfer, die in loser Folge hier im Kulturbüro Göttingen erscheint. In der ersten Ausgabe heute erzählt Schäfer die Geschichte vom Ritmüllerschen Haus am Ritterplan, das heute Teil des Städtischen Museums ist. Dieses Haus hat musikalisch viel erlebt – die Geschichte wird jetzt in Worte gefasst.
Händel und Corona passen nicht gut zusammen. Die Festspiele 2020, ausgerechnet im Jubiläumsjahr ihres 100-jährigen Bestehens, mussten abgesagt werden. Und die Ausstellung „Händel_Göttingen_1920“ im Städtischen Museum, in feierlichem Rahmenp zu Händels Geburtstag am 23. Februar eröffnet, ist derzeit nur digital zugänglich. (Bild 1) Doch es besteht Hoffnung. Aktuell teilt das Museum auf seiner Website mit: „Ab dem 26. Mai wieder geöffnet!“ Aber auch diese digitale Ausstellung lohnt mit klug ausgewählten Bildern, Texten, Interviews und Musikbeispielen einen Besuch auf der Website des Museums
So hat das Museum am Ritterplan auch heute wieder etwas mit Musik zu tun. Das passt zu einem kurzen, aber bemerkenswerten Abschnitt in der langen Geschichte dieses Hauses. Der 1592 errichtete Renaissance-Fachwerkbau (dem eine im 14. Jahrhundert errichtete Wohnanlage vorausging) diente noch im 18. Jahrhundert als Adelssitz der Grafen von Hardenberg. 1832 aber bezog die Firma W. Ritmüller & Sohn dieses Haus, laut Eigenwerbung die „Aelteste Pianoforte-Fabrik Deutschlands“ (Bild 2).
Begonnen hatten Andreas Georg Ritmüller und sein Sohn Gottlieb Wilhelm (1772-1829) im späten 18. Jahrhundert in Göttingen mit der Produktion von Lauten, Gitarren und Harfen. Bald schon kam der Klavierbau hinzu. Als Gründungsjahr gaben sie 1795 an. Nach dem Tod des Vaters 1829 wurde die Firma von den beiden Söhnen Gottlieb Wilhelms geführt, Johann Wilhelm (Jahrgang 1802) und Johann Martin (Jahrgang 1803). Ritmüller wurde ein geachteter Name unter den deutschen Klavierbauern. Nun konnten die Ritmüllers 1832 den Hardenberger Hof erwerben, an dessen Fassade stolz, zwischen den Fenstern der ersten und zweiten Etage, die fast hausbreite Aufschrift W. RITMÜLLER & SOHN. PIANOFORTE-FABRIK prangte. (Bild 3) (Bild 4) Eine noble Immobilie, keine Frage.
Schon bald wurde das Haus am Ritterplan ein Zentrum des kulturellen Lebens in Göttingen, in dem sich Komponisten und Musiker trafen. Einer der berühmtesten Gäste des Hauses war Johannes Brahms, eine Generation jünger als die Firmenbesitzer. (Bild 5) Er war 1853 nach Göttingen gekommen, um hier den Geiger Joseph Joachim zu besuchen. Daraus entwickelte sich eine langanhaltende Freundschaft, die Brahms mit weiteren Besuchen in Göttingen vertiefte. (Bild 6) Dabei spielte immer wieder auch das Haus am Ritterplan eine wichtige Rolle, denn es gehörte zu den Zentren der musikalischen Kreise der Universitätsstadt. Wilhelm Ritmüller wohnte mit seiner Frau Eleonore am Ritterplan 419 (so die damalige Hausnummer). Der Musiklehrer Julius Otto Grimm hatte 1855 Ritmüllers Tochter Philippine geheiratet. Grimm wohnte mit seiner Familie im Haus 418 – nicht direkt neben den Schwiegereltern, wie die Hausnummer vermuten ließe, sondern drei Grundstücke weiter Richtung Osten, wie der Göttinger Stadtplan von Prizelius (um 1860, vielen Dank ans Stadtarchiv) zeigt. (Bild 7) Es war das letzte Haus an der alten Stadtmauer. Sohn Grimm war – nach seinen Paten Brahms und Joachim – auf die Vornamen Johannes und Joachim getauft worden.
In seinem Buch „Aber Fesseln tragen kann ich nicht“ über die Professorentochter Agathe von Siebold (Bild 8) (wohnhaft im Accouchierhaus) und Brahms, erschienen im Steidl Verlag 2003, hat der Göttinger Mediziner Hans Küntzel das rege musikalische Treiben am Ritterplan anschaulich beschrieben. „Ein Haupttreffpunkt des privaten Göttinger Musiklebens war der Saal im Erdgeschoss der Ritmüllerschen Klavierfabrik, der auch heute noch für Museumskonzerte benutzt wird. Dort veranstaltete das Ehepaar Grimm jeden zweiten Sonntag eine Matinee, und hierzu wurden nicht nur alle musikliebenden Göttinger Familien, sondern auch auswärtige Musiker eingeladen, wozu natürlich die Freunde Joachim, Clara Schumann und Brahms gehörten.“ Zu diesem Kreis gehörte auch Agathe (kurz Gathe genannt). (Bild 9) Ihr Biograph Emil Michelmann schreibt – ein wenig salbungsvoll im Ton, doch bewegend –: „Bei Ritmüller aber wohnte die edle Musica in Person, und in den beiden berühmten Sälen folgten ernsten musikalischen Aufführungen fröhliche Feste. […] Durch Grimm wurde Göttingen der Treffpunkt der großen Musikanten, der Kongressort, und durch ihn lernte Agathe die Menschen kennen, die ihr Leben beeinflusst und am Ende doch so glücklich gestaltet haben – Menschen, die, wie Grimm selbst, das Höchste erstrebend, vom heiligen Geist für wahre Kunst beseelt und fern von jeder Eifersucht sich gegenseitig den Weg zum Ruhm ebneten: Johannes Brahms, Joseph Joachim und Clara Schumann.“
Über diese Treffen erzählt Emil Michelmann in seiner Agathe-Biografie: „Johannes und Joachim trafen sich in Gathens Musikstunde bei Grimm, wo ernst gearbeitet und unbestechlich Kritik geübt wurde. Lustiger ging’s des Abends zu, wenn auf dem Ritterplan mit Marschall Niel- oder Teerosen, schnell aus dem Garten geholt, eine Bowle gebraut, Gesellschaftsspiele gespielt wurden oder wenn Johannes am Flügel saß und abwechselnd Joachims Geige und Gathens Sopran begleitete.“ Am Ende dieses Jahres war Brahms noch einmal aus beruflichen Gründen eine Woche lang im Hause Ritmüller zu Gast. Auf dem Ritmüllerschen Flügel übte er sein neues Klavierkonzert (d-Moll op. 15), das am 22. Januar 1859 in Hannover unter der Leitung von Joseph Joachim uraufgeführt werden sollte. Zwischenzeitlich war Beziehung zwischen Brahms und Agathe, die hoffnungsvoll begonnen hatte, deutlich enger geworden. Auf einer Photographie aus dem Jahre 1858 ist ein schmaler Ring an Brahms’ linker Hand zu sehen. (Bild 10) Doch dann Agathe erhielt einen Brief von ihm mit dem entscheidenden Satz „Aber Fesseln tragen kann ich nicht!“ Da nun musste sich Agathe nach einem schweren inneren Kampf von Brahms lossagen. Michelmann: „Das Mädchen schrieb den Scheidebrief und weinte, weinte jahrelang über ihr gestorbenes Glück.“
Damit war das Kapitel Brahms-Agathe beendet. Doch sicherlich ist auch nach 1860 die Ritmüllersche Pianoforte-Fabrik immer einmal Schauplatz musikalischer Ereignisse gewesen. 1891 aber wurde die Firma insolvent und von Bernhard Schröder aus Magdeburg aufgekauft. Der Name blieb dennoch weiter bestehen. (Bild 11) 1897 wurde das Gebäude – zunächst nur in 24 Räumen – Heimstatt der von dem Germanisten Moriz Heyne aufgebauten Altertumssammlung, der Keimzelle des späteren Städtischen Museums.
Der Saal an der Südostecke des Museums, in dem früher musiziert worden war, diente auch in der jüngeren Vergangenheit als kleiner Konzertsaal mit einer Kapazität von etwa 80 Plätzen. Im Jahre 2003 wurde auf Antrag des Göttinger Musikwissenschaftlers Prof. Martin Staehelin (und mit tatkräftiger Unterstützung durch den damaligen Chefdirigenten des Göttinger Symphonie Orchesters Christian Simonis) eine Gedenktafel für Brahms und Joachim am Museum angebracht, 150 Jahre nach dem ersten Besuch von Johannes Brahms in Göttingen. (Bild 12) Musiker des GSO gaben am 19. Mai 2003 ein Sonderkonzert in diesem Saal mit kammermusikalischen Werken von Brahms und Joachim. (Bild 13) Bald folgten weitere Konzerte zur Erinnerung an Brahms, Joachim, Grimm und andere Musiker der 1850er Jahre.
Die jüngste Verbindung des Hauses am Ritterplan zur Musik – und eine weitere Hinwendung zu seiner Vergangenheit im 19. Jahrhundert – beruht auf einer ungewöhnlichen internationalen Aktion. Bei Ernst Böhme, bis 2020 Leiter des Städtischen Museums, meldete sich im Sommer 2015 Frau Luo von der Pearl River Piano Group in Guangzhou/China, heute der größten Klavierfabrik der Welt. Der Hintergrund: Die Pearl River Piano Group hatte den Firmennamen Ritmüller für eine besonders wertvolle Produktlinie ihres Hauses gekauft und interessierte sich nun für das Stammhaus dieser traditionsreichen Firma.
Mit dem Namen Ritmüller macht die Pearl River Piano Group viel Reklame. (Bild 14) Auf ihrer Website findet sich ein chinesischer Passus, der, vom Google-Übersetzer gedolmetscht, folgendermaßen lautet: (Bild 15) Europa ist der Geburtsort der Klaviere. Das 1795 geborene Ritmüller-Klavier hat eine 222-jährige Geschichte. Als Vertreter berühmter Klaviere ist Ritt Miller voller europäischer Kultur und bekannt für seine europäische Klavierweichheit, reine Klangqualität und hervorragende Leistung. Ritter Miller hat seit seiner Geburt vier Jahrhunderte überspannt. Im Laufe der Zeit konnte seine reine Stimme nicht verblassen. (Bild 16)
Bald statteten Frau Luo and weitere Vertreter der chinesischen Firma dem Museum einen Besuch ab. Bei einem Rundgang zeigte ihnen Böhme ein Ritmüllersches Tafelklavier aus dem Jahr 1850, das 1962 von einem Göttinger Klavierhändler angekauft worden war. Es befand sich allerdings nicht mehr in spielfähigem Zustand. (Bild 17) Die chinesischen Gäste verstanden den Wink. Wenige Wochen später erklärte sich die Zentrale in Guangzhou bereit, die Restaurierung des Instruments zu übernehmen. Instandzusetzen waren die Klaviermechanik, die Klaviatur, der Resonanzboden und das Gehäuse. Am 6. Juli 2016 wurde das Tafelklavier in die polnische Stadt Kalisz geschickt, wo es von der Spezialistin Martyna Bartz restauriert wurde. Nach einem knappen Jahr gründlicher Therapie kehrte es am 17. Mai 2017 in sein „Geburtshaus“ zurück. (Bild 18) (Bild 19)
Wieder seiner Bestimmung übergeben wurde das Tafelklavier am 12. August 2017 in einem Konzert der Leipziger Mezzosopranistin Susanne Krumbiegel, begleitet von Michael Schäfer. Auf dem Programm standen Lieder, die Johannes Brahms in oder für Göttingen komponiert hatte. Dieser Liederabend bedeutete „nicht nur für das Tafelklavier, sondern auch für Brahms eine Heimkehr“, wie Böhme damals formulierte. Weitere Liederabende mit dem Ritmüller-Tafelklavier in derselben Besetzung folgten: ein Schubert-Abend mit Liedern auf Texte des Dichters Ernst Schulze (dessen 200. Todestag 2017 begangen wurde) am 18. November 2017 und ausgewählte Lieder von Beethoven am 25. Mai 2019. (Bild 20) Und weil 2020 das Haus anlässlich des Jubiläums der Göttinger Händel-Festspiele die Ausstellung „Händel_Göttingen_1920“ präsentiert, werden abermals musikalische Klänge durchs Haus am Ritterplan ziehen. Jedenfalls dann, wenn das Haus wieder geöffnet ist. (Bild 21)