Um den Stadtmusiker und Türmer an der Göttinger Johanniskirche geht es in dieser Folge der «Musikgeschichte(n) aus Göttingen». Gastautor Antonius Adamske erzählt und wirft einen Blick zurück ins 17. Jahrhundert Göttingens.
Die fahrenden Spielleute des Mittelalters gehörten zu den recht- und ehrlosen Menschen. Zwar hat es zu dieser Zeit ein recht ausdifferenziertes System verschiedener Stufen von Ehrlosigkeit gegeben – die Musiker waren keineswegs mit Dieben und Räubern gleichzusetzen –, jedoch konnten die Spielleute in ihrer Ehre oder körperlich versehrt werden, ohne dass diese Handlungen Konsequenzen nach sich gezogen hätten. Erst durch die Reichsgesetze von 1577 und das Augsburger Interim von 1648 sollte sich das schrittweise ändern. Keineswegs bedeutet das jedoch, dass das fahrende Volk des Mittelalters zu den unbeliebten Gruppen der Gesellschaft gehört hätte. Sie waren Überbringer der Freude bei vielen Festen, namentlich Kindstaufen, Hochzeiten und sonstigen Gelagen.
Im Sinne obrigkeitlicher Ordnung gingen viele Stadtväter im 14. Jahrhundert dazu über, einzelne Spielleute in ihrem Einflussbereich anzusiedeln. Sie machten sich ihr Instrumentenspiel zu Nutze, um städtische Prozessionen zu begleiten, Freund und Feind anzublasen und die Feuerwache auszuüben. Welcher Platz wäre für die letztgenannten Aufgaben idealtypischer gewesen als der höchste Turm der Stadt? In Göttingen ist erstmals 1477 ein Türmer auf dem St. Johannisturm erwähnt, der die Feuerglocke läutete. Er erhielt jährlich drei Schilling, konnte sich jedoch durch Akzidentien (zusätzliche, veränderliche Einkünfte), die er sich auf städtischen Festen verdiente, einen ansehnlichen Lebensunterhalt verdienen. Die Stadt Göttingen billigte dem Türmer relativ schnell den sogenannten Musikzwang zu, der ihn berechtigte, in einer Art Monopol als einziger Spielmann auf städtischen Festen aufzuwarten. Fremde Musiker, die sich dennoch musikalisch betätigten, mussten mit empfindlichen Leibesstrafen rechnen. Spätestens Mitte des 16. Jahrhunderts muss das Türmergewerbe so lukrativ gewesen sein, dass der vom Stadtmagistrat angestellte Musiker künftig einen Gesellen anstellen durfte, der künftig die beschwerlichen Aufgaben auf dem Turm selbst verrichtete. Sich selbst nannte der städtische Amtsträger künftig Meister und Stadtmusiker bzw. Hausmann, da er im Sinne einer Zunft als städtischer Amtsträger Gesellen ausbildete sowie Bürgerrecht und Haus besaß.
1557 ereignete sich ein folgenschwerer Konflikt zwischen Meister Valentein Grues und seinem Gesellen Adam. Der Stadtchronist Lubecus berichtet darüber:
„[...] weil diße beiden allein auf dem torne wahren und niemand bie ime hatten und do sie sich miteinander zanketen, nimpt der meister eine barten, so eben zur hant war, und schlegt den knecht darmit fur den kopf, das er durch die duhre, so eben offen war, zurugke die treppen hinnunterfill, und slegt inen bald zu doth. Darnah, wie er sihet, das er doth war, nimpt er den knecht und wirft den oben vom gesemse aufs dack und das er auf die erden fill, auf den kirchof, das der knecht gar zergrosete. Man sollt meinen, er were drunken gwesen und were selbst darnidergfalln. Es warth der maister Valentin gewarnet, aber er wollt sich nit warnen laßen, das entlich der rath wegn der großen suspicion und argwahn inen must greifen und gfenglich einzihen lassen. Doch wollt er guthwillig nit bekennen, dath ein jurament und eid, er wehre unschuldig an ime. Aber als inen der radt durch den meister vorsuchen ließ und ein weinig hart angriffen, do bekant er alles, was er gethan, wie es ergangen. Darauf lies inen ein erbar rad richten: erstlich zwen finger abnehmen; darnach warth er geradbracht von unten an den beinen bis oben aufs heubt.“ (LUBECUS 1588/1994, S. 414f.)
Doch auch, wenn sich nicht gerade solch ein Streit abspielte, lebte der Türmer gefährlich. Mehrfach schlug der Blitz in die Türmerwohnung ein, mehrfach wurde der diensthabende Türmer fast vom Turm geweht. 1559 befestigte man den Rundgang um den Turm mit Brettern.
Während seiner Dienstzeit hatte der Türmer zu jeder Stunde den Bürgern die Uhrzeit anzuzeigen, was er mit einem sogenannten Abblasehorn verrichtete. Zur Aufmunterung und zum Nebenverdienst scheinen die Göttinger Türmer zwischen den vollen Stunden kleinere Näh- und Flickarbeiten verrichtet zu haben. Daneben sollte der Türmer darauf achten, dass in der eng besiedelten Stadt und den nahegelegenen Dörfern kein Feuer ausbrach. Mit Feuerglocke und Laterne machte er sich bemerkbar. Die Lebenswelt auf dem Turm war hart – wohin etwa mit der anfallenden Notdurft? 1588 wurde in einem Anstellungsvertrag geregelt, dass der Türmer seine Arbeitsstätte „nicht verunfletigen oder beschmeißen“ solle.
Beim Aufwarten auf Hochzeiten schien es schon zu dieser Zeit arbeitsame und müßige Musiker gegeben zu haben, wurde doch dem Hausmann Jacob Hotzeln vorgeworfen, sich „mit dem Lohne und anderem fast ungeburlich, auch unfleißig und muttwilliglich verhalten [zu haben], das unter den burgeren daher viel clagens furgefallen“. Als 1632 – für Göttingen das vorläufige Ende des Dreißigjährigen Krieges – die Garnison in Göttingen stationiert wurde, bekam der Stadtmusiker durch die Soldaten – derer viele ein oder mehrere Instrumente spielten – erhebliche Konkurrenz. Zwar war ihm weiterhin per Musikzwang vergönnt, als Einziger auf bürgerlichen Festen aufwarten zu dürfen, doch scherten sich die Regimentshautboisten und die Bürger oftmals nicht um dieses Monopol. So beschwerte sich Joachim Mollenhauer, der Adjunkt (prädestinierter Nachfolger) des Stadtmusikers Eggers 1689, dass „für unser profession insonderheit beschwerlichen Zeiten, da die Hochzeitliche Musicum alhie nicht allein gantz und gar abkommen, sondern auch außwerts, wie auch in Göttingen selbst auß unsere Nahrung von denen fuschern unbilliger Weise gehemmet wird“.
Zudem gab es noch eine weitere herbe Einschränkung für den Verdienst der Stadtmusiker und ihrer Gesellen – die landesherrlichen Trauerzeiten. War ein Angehöriger der jeweiligen Herrscherfamilie verstorben – Göttingen fiel in der Frühen Neuzeit wechselweise an verschiedene Linien der Welfen –, durfte etwa ein halbes Jahr lang keine freudige Musik erklingen, auch nicht in den Kirchen. Umso ausgiebiger war stets die Wiederaufnahme musikalischer Aktivitäten nach Aufhebung der Trauerjahre in Göttingen.
Der Autor ist Dirigent und Musikwissenschaftler. Die zeitgenössischen Zitate entstammen unter anderem folgender Quelle: StadtAGö, AA, Musiksachen, 1 Stadtmusikanten.