Nari Baroque Ensemble heißt das junge, sympathische Gewinner:innen-Ensemble der diesjährigen Göttingen Händel Competition. Das Ensemble hat sich auf historische Aufführungspraxis früher Musik spezialisiert. Sie begeisterten die Jury sowohl mit feinstem technischem Können als auch mit ihrem durchdachten Konzept für die Nutzung des Raums, in dem sie spielten. Denn die Händel Competition hat vier Preise zu vergeben. Der 1. Preis der Göttinger Händel Gesellschaft dotiert mit 5.000 €, den Bärenreiter Urtext-Preis, den Publikumspreis sowie den Sonderpreis „Musik und Raum“ dotiert mit 2.000 €. Das junge Ensemble holte direkt zwei der Preise. An sie ging dieses Jahr der 1. Preis der Göttinger-Händel-Gesellschaft und der Sonderpreis »Musik und Raum“. Mit beiden dieser Preise ist je ein weiterer Auftritt verbunden. Das Preisträgerkonzert für den Sonderpreis »Musik und Raum« fand am Mittwoch, den 15. Mai 2024 in der St. Martini Kirche in Adelebsen statt.
Jeder Raum und jeder Konzertsaal hat seinen ganz individuellen Raumklang. So sind nicht nur die Instrumente und der Gesang Teil jedes Konzertes, sondern der Raum selbst wird zum Instrumentarium. Und das Nari Baroque Ensemble bot das überzeugendste Raumkonzept der Competition. Dieses Können zeigten sie auch an diesem Abend in der St. Martini Kirche. Denn das Konzept der vier Musiker:innen war nicht nur bezüglich der räumlichen Nutzung schlüssig, sondern schaffen es durch ihren Auftritt, bestückt mit Werken von Georg Philipp Telemann, William Boyce, Alessandro Scarlatti, Georg Friedrich Händel, Giovanni Bononcini, John Christopher Pepusch und Agostino Steffani und den eingeschobenen imaginären Textteilen eine berührende und emotional einschließende Geschichte gebrochener Herzen zu erzählen. Sie nehmen die Zuhörer:innen mit durch die verschiedenen Aspekte eines gebrochenen Herzens und das auf eine beeindruckend mitreißende Art und Weise.
Der Aufritt beginnt mit suchenden Augen des Publikums, denn die Blockflöte ist zu hören, aber zunächst nicht auf der Bühne zu entdecken. Das erste Stück, Telemanns Fantasia Nr.1 in C-Dur, wurde von der Blockflötistin Naomi Hassoun oben aus einem Fenster heraus gespielt. Hassoun ist Absolventin des »Outstanding Musician Program« der IDF und Gründungsmitglied des Nari Baroque Ensemble. Die Tonart C-Dur verleiht dem Satz eine helle und offene Klangfarbe und Möglichkeiten für Verzierungen und Ornamentik, welche auch schön umgesetzt werden. Der Kontrast und die Dynamik des Satzes, gepaart mit dem hervorragenden technischen Können, welches in diesem Satz durch Präzision und Kontrolle, besonders in den schnelleren Passagen und den Übergängen gefordert wird, bot einen wunderbaren Einstieg in das Konzert. Anschließend betritt Guy Pardo den Altarraum der Kirche und setzt sich an das Cembalo. Guy Pardo ist Physiker und Cembalist, der magna cum laude von der Jerusalem Academy of Music and Dance und der Hebrew University of Jerusalem abgeschlossen hat, und beeindruckt durch seine künstlerische Virtuosität und seinen Sinn für musikalische Abenteuer. Er verfolgt derzeit ein Doktorat in Quantenphysik, während er eine erfolgreiche musikalische Karriere genießt. Zu Pardo auf die Bühne kommt jetzt die Sopranistin Liron Givoni. Givoni ist Absolventin der Jerusalem Academy of Music and Dance, ist Solistin und Ensemble-Sängerin in Produktionen wie der Jerusalem Baroque Orchestra und dem Israeli Vocal Ensemble. Sie ist ebenfalls Gründungsmitglied des Nari Baroque Ensemble und hat Opernrollen wie Clorinda und Zerlina interpretiert. Kurz nach ihr erscheint das vierte Mitglied des Ensembles, Yotam Haran, am Violoncello. Haran, gebürtig aus Jerusalem, hat einen Bachelor-Abschluss in modernem Cello und studiert derzeit Barockcello in den Niederlanden, wo er seinen Master-Abschluss an der Conservatory of Amsterdam absolviert. Er ist auch an zeitgenössischer Musik interessiert und war Mitglied des Meitar Ensemble's »Tedarim«-Programms für zeitgenössische Musik. Außerdem spielte er beim Jerusalem Baroque Orchestra.
Gemeinsam bieten sie dem Publikum jetzt »Fair Sylvia« von William Boyce dar, welches durch emotionale Tiefe, melodischer Schönheit, hervorgerufen durch einfühlsame und zeitgleich kraftvolle Melodie sowie der virtuosen Beherrschung der Gesangstechnik die Zuhörer:innen begeistert. Insbesondere die Phrasierung, Artikulation und Dynamik des Werkes machen das Stück sowohl für die Musiker:innen als auch für die Zuhörer:innen interessant und herausfordernd. Inhaltlich geht es um ein schönes Mädchen, um Liebe, Sehnsucht und die „Freude des Küssens und Seufzenz“. Die Rezitationen, die zwischen den Stücken vorgelesen werden, sollen den Zuhörenden „eine Vielzahl von Möglichkeiten aufzeigen, sich gut um ein gebrochenes Herz zu kümmern.“ Denn wie es die erste Rezitation erklärt, handelt es sich um folgendes: „Ein praktischer Leitfaden für alle, deren Herz durch die Liebe gebrochen wurde. Liebe mag heiter beginnen, nimmt aber zu oft eine Wendung zum Schlechten.“
Es folgt Scarlattis Ouvertüre: „Dolce Sonno“ aus »Apenna chiudo gl’occhi« (H56). Die zentrale Arie „Süßer Schlaf“ bringt durch die lyrische Melodie, ausdrucksstarkes Textverständnis und ebenfalls der emotionalen Tiefe das Können der Musiker:innen zum Vorschein. Givoni begeistert mit subtilen Nuancen der Phrasierung, Artikulation und Dynamik, was die emotionale Tiefe und Schönheit der Musik besonders zum Ausdruck bringt. Die darauffolgende zweite Rezitation wird den Menschen geraten, sich nicht an falsche Hoffnungen und Träume zu klammern, denn während sich andere diesen hingeben, sei es „für andere die schlimmste Art der Qual“. Händels „Nel dolce dell’oblio...Giache il sonno a lei dispinge“ folgt auf die Rezitation. Hierbei handelt es sich um zwei Arien aus Händels Kantate »Pensieri notturni de Filli«. Der Text reflektiert innere Konflikte und den Wunsch, dem Schlaf zu entkommen. Diese emotionale Intensität wird durch die sanften Bögen und melodischen Phrasierungen unterstützt. Es wirkt wie ein Gespräch von Gesang und Musik und passt perfekt zu dem vorangegangenen Text der Rezitation. Während der Sonate F-Dur für Blockflöte und Basso continuo, die vorne gespielt wird, verlässt Givoni die Bühne und verschwindet im hinteren Bereich der Kirche. Das Larghetto, welches gespielt wird, erschafft eine tiefe emotionale Wirkung durch harmonische Fortschritte, kontrapunktische Elemente und melodische Bögen. Das später folgende Allegro fordert eine schnelle und anspruchsvolle Spieltechnik sowohl für die Blockflöte als auch für das Basso continuo. Dadurch wird eine fesselnde und vielseitige musikalische Erzählung erschaffen. Es ist geprägt von einer stark rhythmischen, geladenen und gar eigenwillig wirkenden Energie.
In Händels Masque »Acis and Galatea« (HWV 49a) geht es um die Abwesenheit eines geliebten Menschen und die Liebende wünscht sich von den trillernden Vögeln, dass sie ihren Geliebten zu ihr bringen. Dieses Wünschen wird in der Arie „Hush ye pretty warbling quire“ durch das „Gespräch“ von Soprano und Blockflöte hervorragend widergespiegelt. Die Position der Sopranistin oben auf der Empore macht dieses Gespräch noch intensiver. Durch die sanfte und lyrische Natur wird eine Art von Eleganz und einer berührenden Atmosphäre geschaffen, während Givoni es bemerkenswert schafft, den inneren Konflikt Galateas darzustellen. Während des eben beschriebenen Allegros macht sich Givoni wieder auf den Weg von der Empore nach vorne in den Altarraum. Es folgt ein weiterer Textteil der Rezitation, der es denen mit gebrochenen Herzen rät, nicht in eine scheinheilige Gleichgültigkeit zu verfallen. Denn wenn man die Wut auf Liebe genügend Platz erhält, so gewinne die Liebe wieder die Oberhand und werde selbst zum Spötter.
Telemanns „Du bist ein tolles Ungeheuer“ aus „Die Liebe (TWV 20:23) ist das letzte Stück vor der 20-minütigen Pause. Eine sehr lebendige und kraftvolle Darbietung dieses Stückes. Die Musik und der Text ergänzen sich gegenseitig. Hier wird die Liebe weniger als etwas Ersehntes dargestellt, sondern eher als etwas sehr Gefährliches. Das Stück ist geprägt von lebendigen Rhythmen und Melodien und kontrastierender Stimmführung, was in der kleinen St. Martini Kirche wunderbar zur Wirkung kommt.
Nach der Pause ging es mit einem genauso starken Programm weiter. Bononcinis „Scendi Venere“ aus »Sacrificio a Venere« startet mit der Sopranistin auf der Kanzel. Thematisch geht es hierbei um das Opfer für die Göttin Venus, der römischen Göttin der Liebe. Das Stück zeichnet sich durch eine schöne, fließende Melodie aus, die das Thema der Anrufung und Verehrung der Venus unterstreicht. Durch den Gesang von der Kanzel und das anschließende Rumgehen im Raum wurde von den Künstler:innen zusätzliche Lebendigkeit in die Aufführung gebracht. Hierauf folgt erneut ein Textteil der Rezitation, in der infrage gestellt wird, ob die schönen Stunden der Liebe den Schmerz, den sie bringen kann, tatsächlich wert sind und ob sich in der Liebe Freude nicht meist in Leid verwandelt. Anschließend wurden erneut drei Stücke von Händel aufgeführt. Zunächst „Endless pleasure“ aus Semele (HWV 58), in der die Künstler:innen erneut ihre technische Brillanz zum Vorschein bringen. Die Melodie dieser Arie ist beschwingt, lebhaft und eingängig. Die Künstler:innen schaffen es, die Freude und Ausgelassenheit der Figur der Königstochter, die sich verliebt, widerzuspiegeln und miterleben zu lassen. Die Arie „Ha l'inganno il suo diletto“ zusammen mit dem Rezitativ „Osi fida ella vive“ machen den zweiten Teil von Händels römischer Sopran-Solokantate HWV 134 aus, die ebenfalls eine Soloflöte einsetzt. Die Verwendung der Soloflöte ist ein charakteristisches Merkmal dieses Stücks. Sie spielt nicht nur eine begleitende Rolle, sondern interagiert mit der Stimme, oft in Dialogform oder durch die Verdopplung der Gesangslinien, was einen reichhaltigen und kontrapunktischen Klang erzeugt. Der Kontrast zwischen dem eher erzählenden, freien Stil des Rezitativs und der formalen Struktur der Arie schafft eine abwechslungsreiche Erzählung, wo in der Arie die behandelten Emotionen musikalisch vertieft und erweitert werden. Herausfordernd mag dieses Stück für die Sopranistin aufgrund der anspruchsvollen Koloraturen und der weiten Melodiebögen sein, die jedoch meisterhaft bewältigt wurden. Ebenfalls für die Flötistin waren die oft komplexen und schnellen Passagen herausfordernd, die es verlangen, sauber und ausdrucksstark gespielt werden wollen, was ebenfalls mit Bravour umgesetzt wurde.
Als letztes Händel Stück des Abends wurden die ersten beiden Sätze der Sonate a-Moll (HWV 362) für die Blockflöte und Basso continuo geboten. Hierbei handelt es sich um ein vielseitiges und anspruchsvolles Werk, das sowohl Ausdruckskraft im Adagio als auch technische Virtuosität im Allegro fordert. Die Musiker:innen bewiesen ein enges Zusammenspiel mit dem Continuo, insbesondere bei den kontrapunktischen Abschnitten und den rhythmisch komplexen Passagen. Anschließend folgte der vorletzte Text aus dem „Broken Heart Handbook“ und gibt Tipps zur Schmerzlinderung eines gebrochenen Herzens. Doch die gängigen Tipps, Liebe mit Verstand zu besiegen oder die Schuld auf andere zu schieben, seien fast immer zum Scheitern verurteilt. Diese Darstellung der Liebe findet sich auch in den zwei folgenden Werken wieder. William Boyces „The Distracted Lover“ und John Christopher Pepuschs “Why shou’d I Love” aus When Loves soft passion. Beides zwei bemerkenswerte Werke aus dem barocken englischen Repertoire. “The Distracted Lover“ erzählt eine Geschichte eines Liebenden, der von seinen Gefühlen überwältigt wird, voll von inneren Konflikten, die durch die kontrastierenden Abschnitte wunderbar wiedergegeben werden. Auch die abwechslungsreichen Harmonien geben diese innere Unruhe und die Emotionen wider. Auch hier begeistern die Musiker:innen nicht mit emotionaler Tiefe, dynamischer Kontrolle und sorgfältiger Phrasierung. „Why shou’d I Love“ hat dagegen einen eher tänzerischen Charakter, der eine fröhliche und beschwingte Stimmung vermittelt, die durch die wunderbar eingesetzten dynamischen Variationen und der klaren Artikulation zum Tragen kamen. Somit boten die beiden Arien mit der von Boyce, die eher introspektiv und ernsthaft ist und der von Pepusch eher lebhaft und verspielt eine interessante stilistische Vielfalt.
Es folgt der letzte Ratschlag für die gebrochenen Herzen, nämlich, dass sich das Herz selten dem eigenen Willen beugt. Letztendlich bliebe nur die Klage. Und somit kommt das Ensemble zum letzten Programmpunkt: der Kantate Spezza, Amor, genauer der endenden Sopranarie „Fortuna crudele“. In dieser Szene wird besonders das Leid und die Qualen der Hauptfigur deutlich, die von der unbarmherzigen Fortuna, dem Schicksal, geplagt wird. Dabei vermittelt die Musik eine kraftvolle emotionale Botschaft und malt ein lebendiges Bild von Verzweiflung und Schmerz. Die von Givoni überzeugend dargestellten Emotionen der Figur machen dieses Stück zu einem ergreifenden Höhepunkt, der die expressiven Kräfte und die dramatische Intensität des gesamten Werkes eindrucksvoll unterstreicht. Somit ist dieses Stück mit der expressiven Kraft und der dramatischen Intensität ein perfekter Schluss dieses Durchleben eines gebrochenen Herzen.
Die Zuschauer:innen sind so begeistert von dem Konzert, dass noch zwei kurze Zugaben gespielt werden, bevor dann Jochen Schäfsmeier, Geschäftsführender Intendant der Internationalen Händel-Festspiele in Göttingen, auf die Bühne tritt und den wohlverdienten Preis an die Musiker:innen überreicht. Der Abend wurde zusätzlich durch ein Meet The Artist abgerundet, bei dem die Zuhörer:innen die Musiker:innen bei einem Glas Wein kennenlernen und mit ihnen ins Gespräch kommen konnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieser Preis wohlverdient in die Hände des Nari Baroque Ensembles geht und sie einen wunderbaren Abend mit einem schlüssigen Konzept und einem wunderbaren Programm geboten haben, der wohl alle einmal das Auf und Ab eines gebrochenen Herzens hat wieder miterleben lassen.