Willkommen im Kulturportal vom Kulturbüro Göttingen. 

Hier finden Sie Termine und Nachrichten aus dem Kulturleben der Region. Sie können sich einloggen oder neu registrieren, Ihr Abonnement abschließen oder verwalten, in dem Sie auf das Menü rechts klicken. (Die drei kleinen schwarzen Balken.)
Mit einem bezahlten Abonnement haben Sie Zugang zu allen Texten und Funktionen – und unterstützen die Arbeit des Kulturbüros.

Bühnenbildentwurf von Lotte Brill (Parthenope, Kerkerszene) Göttinger Händel-Festspiele 1935 Quelle: https://www.festspiel-archiv.de/1935/index.html
  • Dieser PLUS-Artikel ist frei verfügbar
Information
Musikgeschichte(n) aus Göttingen

Spuren einer unseligen Historie

Information
Karrieren unterm Hakenkreuz (dritte und letzte Folge): Solisten der Göttinger Händel-Opern in den zwanziger und dreißiger Jahren
von Michael Schäfer, erschienen am 08. April 2021

In den ersten beiden Teilen dieser Spurensuche ging es um Solistinnen und Solisten der ersten Göttinger Händel-Festspiele mit Schwerpunkt auf den Jahren 1921 und 1922. Bei der Spurensuche konnte ich in wenigen Fällen auf gedruckte Literatur aus meiner eigenen Bibliothek zurückgreifen. Ansonsten musste ich mich der Corona-Vorschriften wegen in erster Linie auf das Internet beschränken, ich konnte also keine Bibliotheken aufsuchen. Inwieweit die im Internet gefundenen Quellen verlässlich sind, müsste man später überprüfen. Wiederholt sei der Hinweis auf die Online-Sonderausstellung im Städtischen Museum „Händel_Göttingen_1920. Von einem lokalen Projekt zum professionellen Festival mit internationaler Ausstrahlung“, die noch bis zum 24. Mai 2021 verlängert worden ist und seit dem 16. März wieder besucht werden kann. Das Betreten des Museums ist derzeit aber nur mit medizinischer oder FFP2-Maske gestattet.

Schwerpunkt der heutigen Folge, mit der die Serie abgeschlossen werden soll, ist die Zeit nach 1931. Das ist das Jahr, in dem die Göttinger Händel-Gesellschaft gegründet wurde. Zuvor seien noch Mitwirkende der Festspiele vor 1931 erwähnt, deren Lebenswege von der nationalsozialistischen Politik ebenfalls erheblich beeinflusst wurden.

Tiny Debüser, Mezzosopran (1892-1957)
Göttingen 1926: Theophano in „Otto und Theophano“

Die Sängerin wurde Anfang der 1920er Jahre als ausgezeichnete Sopranistin gefeiert, die sich insbesondere für moderne Musik einsetzte. Sie sang Werke von Paul Hindemith, Rudi Stephan, Julius Weismann, Yrjö Kilpinen und Ernst Krenek, der 1925 unter dem Titel O Lacrimosa drei Gedichte von Rainer Maria Rilke für sie vertonte. Sie sang auch die Uraufführung dieser Lieder 1927 unter der Leitung von Hermann Abendroth. Debüser war Mitbegründerin der Kölner Gesellschaft für Neue Musik. Sie arbeitete unter anderem mit dem Dirigenten Hermann Scherchen zusammen, einem Spezialisten für neue Musik. Auch wenn er sie häufig einsetzte, beurteilte er ihre Interpretation bisweilen kritisch. Nach einer Aufführung von Liedern Kilpinens in Salzburg 1923 schrieb Scherchen an seine Frau: Zum Teil die beste Leistung der Debüser (stimmlich), zugleich wieder von einer Undiszipliniertheit, daß mir fast übel wird. Empörend, wenn übermäßig sich ausdrücken Ausdruck u. ein Werk sein soll, das selbst man nicht beherrscht. Ihre Beliebtheit zeigte sich auch noch 1932, als sie zusammen mit der Altistin Ida von Hardt zu Nieden und dem Tenor Joseph Schmidt als Gesangsdarstellerin für den Film Goethe lebt…! von Eberhard Frowein engagiert wurde, in dem Heinrich George als Götz von Berlichingen auftrat. Bereits 1933 war sie eine überzeugte Nationalsozialistin, arbeitete in der NS-Frauenschaft und war Mitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur. Musikalisch trat sie in späteren Jahren weniger an die Öffentlichkeit. (Lit 1, 2)

III 01 Kreiten 650Eine äußerst unrühmliche Rolle hat Tiny Debüser im Zusammenhang mit dem aus Düsseldorf stammenden Pianist Karlrobert Kreiten (1916-1943) gespielt. Der hatte schon in jungen Jahren eine steile Karriere begonnen. In einer Rezension vom März 1943 heißt es: Karlrobert Kreiten, der junge Wundermann am Flügel, vollbrachte mit ruhiger Selbstverständlichkeit Spitzenleistungen an Technik und Ausdrucksbesessenheit. … ein sensationeller Erfolg. (Link 1) Kreiten war Meisterschüler von Claudio Arrau. Sein Lehrer bezeichnete ihn als „eines der größten Klaviertalente, die mir je begegnet sind. Er hätte, ohne Zweifel, seinen Platz als einer der größten Pianisten eingenommen. Er bildete die verlorene Generation, die fähig gewesen wäre, in der Reihe nach Kempff und Gieseking zu folgen.“ (https://www.youtube.com/watch?v=jeAFroNrlTI" data-mediabox-src="Claudio Arrau habla sobre Karlrobert Kreiten (Claudio Arrau spricht über Karlrobert Kreiten): https://www.youtube.com/watch?v=jeAFroNrlTI">Link 2) Am 3. Mai 1943 sollte Kreiten einen Klavierabend in Heidelberg geben. Doch der kam nicht zustande. Mitte März hatte der Pianist in Düsseldorf bei Ellen Ott-Moneke, einer Bekannten seiner Mutter, einen Übungsraum zur Vorbereitung auf sein Konzert gefunden. Nicht wissend, dass sie eine überzeugte Nationalsozialistin war, äußerte er in einem Gespräch, der Krieg sei praktisch schon verloren und werde zum vollständigen Untergang Deutschlands und seiner Kultur führen. Kreitens Gastgeberin, die sich für Kreiten erst nach dem Verrat als glühende Nationalsozialistin herausstellte, suchte zwei Mitbewohnerinnen des Hauses auf, um ihnen von den Vorgängen zu erzählen. Diese beiden ebenfalls engagierten Nationalsozialistinnen, Annemarie Windmöller, geb. Küstner und Tiny von Passavant, geb. Debüser, veranlassten Ott-Monecke zu einer Meldung an die Reichskulturkammer. Als nichts Entscheidendes geschah, zwangen beide Funktionärinnen Kreitens vormalige Gastgeberin, die sich zunächst sträubte, zu einer Meldung an das Propagandaministerium und, schlimmer noch, bei der Geheimen Staatspolizei. Beide denunzierten Kreiten bei der Reichsmusikkammer, von der Anzeige an die Gestapo weitergeleitet wurde. (Lit 3) Am 3. Mai morgens um 8 Uhr wurde Kreiten von der Gestapo verhaftet. Vier Monate später verurteilte ihn der „Volksgerichtshof“ unter dem Vorsitz von Roland Freisler zum Tode. Am 7. September 1943 wurde Karlrobert Kreiten in Berlin-Plötzensee durch den Strang hingerichtet.

Werner Höfer Bundesarchiv B 145 Bild F051796 0017 430Mit dem Todesurteil über Karlrobert Kreiten hängt auch das Ende der Karriere des Journalisten Werner Höfer (1913-1997) zusammen, der mit dem von ihm moderierten „Internationalen Frühschoppen“ in Rundfunk und Fernsehen der Nachkriegszeit hohe Einschaltquoten erzielte. Höfer hatte 1943 in einem Zeitungskommentar das Todesurteil gegen den Pianisten wegen „Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung“ positiv kommentiert: Wie unnachsichtig jedoch mit einem Künstler verfahren wird, der statt Glauben Zweifel, statt Zuversicht Verleumdung und statt Haltung Verzweiflung stiftet, ging aus einer Meldung der letzten Tage hervor, die von der strengen Bestrafung eines ehrvergessenen Künstlers berichtete. Es dürfte heute niemand Verständnis dafür haben, wenn einem Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten Volksgenossen. Das Volk fordert vielmehr, daß gerade der Künstler mit seiner verfeinerten Sensibilität und seiner weithin wirkenden Autorität so ehrlich und tapfer seine Pflicht tut, wie jeder seiner unbekannten Kameraden aus anderen Gebieten der Arbeit. Denn gerade Prominenz verpflichtet! Diesen Kommentars hat Höfer nach 1945 nie erwähnt, wohl in der Hoffnung, er werde nicht ruchbar. Als 1962 Albert Norden (SED) bei einer internationalen Pressekonferenz in Ostberlin Höfers Autorschaft enthüllte, wurde das in der BRD zwar zur Kenntnis genommen. Doch Höfer redet sich heraus mit der Erklärung, der Text stamme nicht von ihm selbst, sondern sei ihm „hineinredigiert“ worden. Erst 1987, als auch im Westen die Beweise nicht mehr zu leugnen waren, nahm der WDR die Sendung „Der internationale Frühschoppen“ aus dem Programm. Das Bundesverdienstkreuz, mit dem Höfer 1973 ausgezeichnet worden war, blieb ihm dennoch. (Lit 4, 5, 6)

Paula Lindberg, Alt (1897-2000)
Göttingen 1930: Solistin im Festkonzert der Händel-Festspiele mit Arien aus „Julius Caesar“ und „Xerxes“, begleitet von der Akademischen Orchestervereinigung unter der Leitung von Wolfgang Stechow

http://www.alemannia-judaica.de">III 03 Frankenthal Pfalz Synagoge 1 624Geboren wurde die Sängerin am 21. Dezember 1897 in Frankenthal in der Pfalz als Paula Levi. Ihr Vater war der jüdische Religionslehrer und Chasan [Kantor in der Synagoge] Lazarus Levi, der als Sänger einen besonderen Ruf besaß, weit über die Stadt Frankenthal hinaus. (Bild 3) Das Grab der Eltern auf dem neuen Judenfriedhof in Frankenthal ist heute noch erhalten. Ihre Ausbildung erhielt Paula Salomon-Lindberg hauptsächlich in Mannheim und Berlin durch Julius von Raatz-Brockmann. Kontrapunkt lernte sie bei Ernst Toch. Sie wurde in den 1920er Jahren bekannt und trat hauptsächlich in Werken der Barockzeit wie J. S. Bachs Matthäus-Passion, Händels Messias, aber auch in moderneren Werken wie Gustav Mahlers Lied von der Erde auf. 1929 gastierte sie im Grand Théâtre de Genève. Zwischen 1930 und 1933 sang sie die Altpartien bei den Aufführungen der Bach-Kantaten in der Leipziger Thomaskirche. Sie war mit zahlreichen Persönlichkeiten wie dem Komponisten Siegfried Ochs, dem Musikwissenschaftler Kurt Singer, dem Architekten Erich Mendelsohn, dem Musikkritiker Alfred Einstein, den Brüdern Paul und Rudolf Hindemith sowie Albert Schweitzer befreundet. Als Jüdin erhielt sie 1933 Auftrittsverbot. Noch bis 1937 sang sie für den Jüdischen Kulturbund Berlin, den sie zusammen mit Kurt Singer aufbaute.

III 06 Paula Lindberg 1980 650In der Künstlerhilfe konnte sie vielen gefährdeten Personen die Emigration ermöglichen. (Bild 5) 1939 gelang ihr mit ihrem Mann, dem Chirurgen Albert Salomon, die Flucht nach Amsterdam. 1943 wurden die Eheleute im Konzentrationslager Westerbork interniert, konnten jedoch abermals fliehen und die Besatzungszeit bis 1944 versteckt überleben. Paula Lindberg wurde nach Kriegsende eine hoch angesehene Gesangspädagogin in Amsterdam sowie in Sommerkursen in Salzburg. Sie ist nach ihrer Heirat unter dem Namen Paula Lindberg-Salomon aufgetreten. (Bild 6) Ihre Stieftochter Charlotte Salomon war eine bedeutende Malerin (Link 6). Von Paula Lindberg-Salomon ist der Satz überliefert: Heute frage ich nicht mehr: Bist du Deutscher, bist du Jude oder Christ? Heute sehe ich in jedem den Menschen. Gestorben ist sie im Alter von 102 Jahren am 17. April 2000 in Amsterdam. (Lit 7)

Es gibt Schallplattenaufnahmen mit Paula Lindberg auf Parlophon. Obwohl sie eigentlich keine Opernsängerin war, singt sie auf dieser Marke in einem Querschnitt durch die Oper Martha von Flotow die Partie der Nancy, auch – mit Elisabeth Kühnlein und Alfhild Petzet – das Rheintöchterterzett aus der Götterdämmerung unter Max von Schillings, auf Derba Szenen aus Carmen. Die Habanera und die Seguidilla können Sie hier hören (Link 3Link 4). Für die jüdische Firma Lukraphon entstanden Parlophon-Platten mit jüdischer religiöser Musik, bei denen u. a. auch Joseph Schmidt mitwirkte. Auf einer dieser Platten singt sie Bachs Lied „Bist du bei mir“. (Link 5)

Meta Scheele (1904-1942), Laienschauspielerin
Göttingen 1930: Gretchen in Goethes „Urfaust“

III 07 Meta Scheele 650Meta Scheele (Bild 7) wurde in Uetersen (Holstein) als Tochter des Heimatforschers Heinrich Julius Scheele geboren. Sie studierte von 1924 bis 1928 an den Universitäten Hamburg, Berlin und Göttingen Geschichte, Deutsch und Englisch. 1928 wurde sie an der Universität Göttingen mit einer Arbeit über den sogenannten Historischen Pyrrhonismus promoviert, einen in Frankreich und Deutschland verbreiteten radikalen Skeptizismus, die sich auf die Kritik der Möglichkeit von Erkenntnis über die Geschichte konzentrierte. In Göttingen heiratete sie 1930 ihren Kommilitonen Werner Pleister, der 1927 mit einer Arbeit über Justus Möser promoviert worden war. Ihr Mann war ebenfalls an der „Urfaust“-Produktion beteiligt, er betreute als Co-Regisseur die hinter der Bühne angesiedelten Stimmen des Erdgeistes und der Bösen im Dom. Im Hannoverschen Kurier vom 11. Juli 1930 schrieb Johann Frerking über die Göttinger „Urfaust“-Aufführung unter anderem: „Wundervoll war der erste Einsatz des Gretchen, der Dr. Meta Scheele Umriß und Seele gab.“ (Lit 8)

Vor allem als Romanschriftstellerin hat sich Meta Scheele einen Namen gemacht. Zu ihren Werken gehören die Romane „Frauen im Krieg“ (1930), „Der geliebte Klang“ (1934), die biographie romancée „Die Sendung des Rembrandt Harmenszoon van Rijn“ (1934) sowie der historische Roman „Stier und Jungfrau“ (1936).

https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/chronik/direktorenfernsehen100_p-11.html">III 08 Pleister NDR 650Die Ehe mit Werner Pleister wurde 1937 geschieden. 1938 wurde Meta Scheele wegen eines Nervenleidens in die Nervenheilanstalt Strecknitz in Lübeck eingewiesen. Am 1. Juni 1942 wurde sie Opfer der zweiten Phase der nationalsozialistischen Euthanasie, der „Aktion Brandt“. Werner Pleister (1904-1982) leitete als Mitglied der NSDAP von 1932 bis 1937 die Literarische Abteilung des Deutschlandsenders. Von 1949 bis 1959 war er Programmdirektor beim NWDR in Hamburg (Bild 8). Am 25. Dezember 1952 eröffnete er mit einer Ansprache das Nachkriegsfernsehen. Er war von 1961 bis 1967 Direktor des Deutschen Instituts für Film und Fernsehen und bis 1972 Studienleiter der Hochschule für Film und Fernsehen. Von 1953 bis 1955 amtierter er als erster, damals noch nebenamtlicher Koordinator des Deutschen Fernsehens. (Lit 9, 10).

Walter Meyerhoff (1890-1977) war von 1931 bis 1976 Vorsitzender der Göttinger Händel-Gesellschaft. Der Jurist wurde 1923 Richter am Landgericht Göttingen und war von 1945 bis 1958 Landgerichtspräsident. Nach Eintritt in den Ruhestand wurde er als CDU-Mitglied kommunalpolitisch aktiv, gehörte von 1961 bis 1976 dem Göttinger Rat an und war von 1968 bis 1973 Erster Bürgermeister der Stadt Göttingen. 1969 wurde er Ehrenbürger der Universität, 1970 Ehrenbürger der Stadt Göttingen. (Lit 11)

https://haendelgoe1920.de)">III 09 Meyerhoff 6501931 gründete Walter Meyerhoff die Göttinger Händel-Gesellschaft, die bis zur Errichtung der Festspiel-GmbH 2008 die Händel-Festspiele organisierte. Jahrzehntelang prägte Meyerhoff die Struktur der Festspiele, zog im Hintergrund die Fäden und sorgte für Kontinuität. Damit hat er sich ohne Zweifel große Verdienste erworben, die unter anderem mit der Berufung zum Ehrenvorsitzenden der Händel-Gesellschaft 1976 nach seinem Ausscheiden aus diesem Amt gewürdigt wurden. Über seine Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus hat sich Meyerhoff in seinen Festspiel-Chroniken nach 1945 nur knapp geäußert. In der 1970 erschienenen Festschrift 50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele (Lit 12) vermerkt er in seiner Chronik zum Jahr 1944 lediglich: Die mit einem Kammerkonzert und einem Vortragsabend vorbereiteten Händeltage 1944 wollte die Kreisleitung der NSDAP im Zuge der von ihr betriebenen „Gleichschaltung“ der Göttinger Händel-Gesellschaft unter dem Vorsitz des Kreisleiters Dr. Gengler in eine von ihr veranstaltete Händel-Festspielwoche einbeziehen. Da Fritz Lehmann zur Mitwirkung in einer nicht unter seiner künstlerischen Verantwortung geplanten Händelwoche nicht bereit war, fand diese als Veranstaltung der NSDAP statt. … Lediglich der Vortrag von Professor Dr. Rudolf Gerber wurde in diese Festwoche übernommen. Etwas ausführlicher hatte sich Meyerhoff 1945 in seinem Antrag auf Wiederzulassung der Händel-Gesellschaft an die britische Militärregierung geäußert. Einleitend schreibt er, die Gesellschaft habe auch in den letzten 12 Jahren die Pflege von Händels Werk … unbekümmert um politische Weisungen durchgeführt. Weiter führte er aus: Die Gesellschaft ist niemals nach dem nationalsozialistischen Führerprinzip, sondern von dem von der Mitgliederversammlung gewählten dreigliederigen Vorstand geleitet worden; sie hat auch in den vergangenen 12 Jahren niemanden wegen seiner Rasse von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. … 

Wie sich Meyerhoff tatsächlich nach 1933 verhalten hat, ist von dem Hallenser Musikwissenschaftler Lars Klingberg gründlich recherchiert worden. Darüber hat er in einem Aufsatz berichtet, der erstmals im Händel-Jahrbuch 2014 und anschließend in einem durchgesehenen Wiederabdruck in den Göttinger Händel-Beiträgen 2015 erschienen ist. (Lit 13) Die Recherchen sind auch Grundlage der Darstellung dieses Zeitabschnittes in der aktuellen Sonderausstellung „Händel_Göttingen_1920“ im Städtischen Museum Göttingen.

1933 drängte Meyerhoff den Kunsthistoriker Wolfgang Stechow aus dem Vorstand der Händel-Gesellschaft. Bereits am 25. April 1933 war Stechow von seinem Amt als Dirigent der AOV zurückgetreten. Er wurde wegen seiner jüdischen Vorfahren von den Nationalsozialisten angefeindet. Meyerhoff war sogar der Ansicht, Stechow müsse nach dem Rückzug aus der AOV auch automatisch aus dem Vorstand der Händel-Gesellschaft ausscheiden. Bei der Umbildung des Vorstands 1933 forderte Meyerhoff Stechow zwar nicht offen zum Rücktritt auf, formulierte aber in einem Brief vom 15. Juni 1933: „Auch die Händelgesellschaft wird nicht umhin können, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen, wenn sie überhaupt weiter wirken soll.“ Zwei Sätze später wird er deutlicher: „Um dies zu ermöglichen, müssen wir in der Personenfrage uns allerdings den neuen Dingen anpassen.“

In seiner Chronik zum 20-jährigen Bestehen der Händel-Gesellschaft, also 1940, beschreibt Meyerhoff die von ihm vorgenommene Umbildung des Vorstands, in den er überzeugte Anhänger des NS-Regimes integrierte. Dazu gehörten Göttingens Bürgermeister Albert Gnade (1886-1966), NSDAP-Mitglied bereits seit 1922 und ab 1931 SS-Angehöriger, und der NSDAP-Kreisleiter Dr. Thomas Gengler. Das ist insofern besonders bemerkenswert, als Gengler später ein erbitterter Gegner Meyerhoffs war. Gengler nahm ihm übel, dass der Jurist an seiner festen Bindung an die katholische Kirche unbeirrt festhielt, sogar große Summen für den Bau der Paulus-Kirche spendete. Meyerhoff sei „nicht zuverlässig“, meldete Gengler immer wieder. Doch Meyerhoffs Personalpolitik im Zusammenhang mit der Händel-Gesellschaft ist in der Tat, wie Lars Klingbeil in seinem Aufsatz „Die Göttinger Händel-Gesellschaft während der NS-Zeit“ formuliert, „ein peinlicher Akt der Unterwerfung unter die neuen Machthaber“. Dass Meyerhoff im Oktober 1933 der Aufforderung der Kreispropagandaleitung der NSDAP eilfertig nachkommt, mit der Händel-Gesellschaft dem „Kampfbund für die deutsche Kultur“ beizutreten, ist ein weiterer Beleg für diese Handlungsweise. Immerhin gelang es Meyerhoff aber, die Händel-Gesellschaft bis zum Ende des Nazi-Regimes weiter selbst zu führen und den 1944 unternommenen Versuch der NS-Kulturpolitiker, die Händel-Gesellschaft in eine von der NSDAP veranstaltete Händel-Festspielwoche einzubeziehen, zu vereiteln. Lediglich ein Vortrag von Prof. Dr. Rudolf Gerber, dem Direktor des Göttinger Musikwissenschaftlichen Seminars, wurde in diese Festwoche übernommen.

III 10 Gerber 267Dieser Vortrag zum Thema „Händel und Italien“ aus dem Jahre 1944 findet sich 26 Jahre später in der 1970 von Meyerhoff herausgegebenen Festschrift „50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele“ an prominenter Stelle: Er eröffnet das Buch. „Diesen Vortrag vom Juni 1944 drucken wir in dankbarem Gedenken an diesen integren Gelehrten in unserer Festschrift ab“, schreibt Meyerhoff dazu. Was Meyerhoff nicht wusste: Auch Rudolf Gerber (1899-1957) hatte enge Verbindungen zum Nationalsozialismus, war Mitarbeiter bei der Hauptstelle Musik im Amt Rosenberg (Lit 14), nannte in einem Aufsatz 1939 Gustav Mahler einen „Hauptvertreter des internationalen Judentums“, der „eine Ära des äußeren und inneren Zerfalls einleitete“. (Lit 15) Offenbar hatte aber Meyerhoff auch den von ihm abgedruckten Aufsatz des „integren Gelehrten“ nicht besonders genau gelesen. Gerber schreibt zum Thema „Händel und Italien“: „Das italienische Pathos ist […] ein als Spiel erlebtes Pathos, kein Ergriffensein an der existentiellen Wurzel, keine Erschütterung. […] Das deutsche Pathos hingegen ist ein wirkliches Erleiden, eine Bewegung, die aus der Tiefe der Seele kommt.“ (Lit 16) Das ist ganz dicht an der NS-Rassenlehre angesiedelt (der Gerber schon 1938 mit einem Vortrag zum Thema „Volkstum und Rasse in der Persönlichkeit und Kunst von Johannes Brahms“ seine Reverenz erwiesen hatte). Vergleicht man Gerbers Aussagen mit entsprechenden Passagen in Richard Eichenauers Buch „Musik und Rasse“ (²1937), wird der Nährboden für dieses Denken deutlich. Eichenauer schreibt: „Was Händel an Schönheit des Südens besitzt, ist eine kernige, gesunde, wesenhafte Schönheit; geistig aber verleugnet er den Mutterboden des Nordens nie.“ (Lit 17)

Gerbers zitierte Äußerung über Gustav Mahler findet ebenfalls ihre Entsprechung bei Eichenauer. Der schreibt: „Wir sind nicht berechtigt, an der persönlichen Lauterkeit von Mahlers Ringen um den deutschen Geist zu zweifeln; aber das darf uns nicht an der Feststellung hindern, dass im ganzen dieses Ringen eben doch erfolglos blieb, aus rassischen Gründen erfolglos bleiben musste.“ Und einen Absatz später zitiert Eichenauer den Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser, der in Mahlers „Lied von der Erde“ einen „Zerfall harmonischer Polyphonie“ zu finden meint. (Lit 18)

Mit diesen Spuren einer unseligen Historie sei der Rückblick auf die „Karrieren unterm Hakenkreuz“ während der Göttinger Händel-Festspiele abgeschlossen. Die Beispiele hinterlassen stellenweise Gefühle der Beklemmung. Rasch passten sich Menschen „den veränderten Verhältnissen“ an, schnell waren sie bereit, jüdische Mitbürger auszusondern, wissenschaftliches Denken der neuen Ideologie zu unterwerfen. Kaum jemand protestierte gegen die Auftrittsverbote für jüdische Künstler, die sich auch auf die Göttinger Händel-Festspiele ausgewirkt hatten.

Viele Menschen haben schon bald nach 1945 zu vertuschen versucht, was sie in den zwölf Jahren zuvor getan oder unterlassen hatten. So stark hatte also die NS-Zeit ihren Gerechtigkeitssinn doch nicht verändert: Immerhin wussten sie, dass die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit ihrer Karriere schaden konnte. Das ist vor allem bei den Wissenschaftlern zu beobachten, von denen viele ihre Laufbahn nach 1945 ungehindert fortsetzen konnten.

Die NS-Propaganda war ausgesprochen erfolgreich, sie hat das Denken, auch den Gerechtigkeitssinn der Menschen verändert. Bei der Bewertung der geschilderten Verhaltensweisen sollte man allerdings nicht vorschnell Urteile fällen, sondern sich immer wieder prüfen, wie man denn wohl selbst in einer solchen Situation gehandelt hätte.

Fotos

00 Bühnenbildentwurf von Lotte Brill (Parthenope, Kerkerszene) Göttinger Händel-Festspiele 1935 Quelle: https://www.festspiel-archiv.de/1935/index.html

1 Karlrobert Kreiten Photo: Gedenkstätte deutscher Widerstand (www.gdw-berlin.de)

2 Werner Höfer (1980) Photo: Deutschlandfunk Kultur/dpa

3 Synagoge in Frankenthal, Postkarte von 1894 Quelle: http://www.alemannia-judaica.de

4 Paula Lindberg-Salomon um 1935 Quelle: Youtube

5 Stolperstein vor dem Haus Wielandstraße 15 in Berlin-Charlottenburg, in dem Paula Lindberg-Salomon gewohnt hat Photo: Wikipedia

6 Paula Lindberg-Salomon 1980 Photo: Wikipedia

7 Meta Scheele (undatiert) Photo: Rosemarie Clausen

8 Werner Pleister Quelle: NDR (https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/chronik/direktorenfernsehen100_p-11.html)

9 Walter Meyerhoff (undatiert, etwa 1980er Jahre) 
Quelle: Städtisches Museum (https://haendelgoe1920.de)

10. Rudolf Gerber (undatiert) Photo: unbekannt

Links zu Tonbeispielen

1 Karlrobert Kreiten spielt Chopin, Brahms, Schoeck etc.: 
https://www.youtube.com/watch?v=GYp-0pGyKDU

Claudio Arrau habla sobre Karlrobert Kreiten (Claudio Arrau spricht über Karlrobert Kreiten):
https://www.youtube.com/watch?v=jeAFroNrlTI

3 Paula Lindberg-Salomon singt die Habanera aus „Carmen“ (Berlin 1929)
https://www.youtube.com/watch?v=keAR2g80ZRw

4 Paula Lindberg-Salomon singt die Seguidilla aus „Carmen“ (nicht datiert)
https://www.youtube.com/watch?v=gkUpiJ87V9Y

5 Paula und Albert Salomon im Gespräch mit dem Journalisten Stefan Troller über die Malerin Charlotte Salomon für die WDR-Sendung „Pariser Journal“ (1963): https://www.youtube.com/watch?v=NlytljkojGo

6 Paula Lindberg-Salomon singt „Bist du bei mir“ von Johann Sebastian Bach, am Klavier: Rudolf Schwarz (nach 1933): https://www.youtube.com/watch?v=sdX9mhbGljI

Literatur

1 Wikipedia, Artikel Tiny Debüser

2 Hermann Scherchen „… alles hörbar machen“, Briefe eines Dirigenten 1920-1939, Berlin 1976

3 Quelle: http://karlrobertkreiten.de/der-verrat/drei-veraeterinnen.php

4 hg. Friedrich Lambart: Tod eines Pianisten. Karlrobert Kreiten und der Fall Werner Höfer, Berlin 1988

5 Wikipedia, Artikel Karlrobert Kreiten

https://www.rf-news.de/2019/kw36/das-kurze-leben-des-karlrobert-kreiten

7 Wikipedia, Artikel Paula Lindberg-Salomon

8 Rezension in: https://www.festspiel-archiv.de/1930/index.html

9 Wikipedia, Artikel Meta Scheele

10 Who’s who (https://whoswho.de/bio/werner-pleister.html)

11 Wikipedia, Artikel Walter Meyerhoff

12 50 Jahre Göttinger Händel-Festspiele. Festschrift, hg. von Walter Meyerhoff, Göttingen 1970

13 Lars Klingbeil: Die Göttinger Händel-Gesellschaft während der NS-Zeit, in: Göttinger Händel-Beiträge XVI, Jahrbuch 2015, S. 107-141

14 siehe auch Willem de Vries: Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-45, Köln 1998, S. 57

15 Rudolf Gerber: Die Musik der Ostmark, in: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 2 (1939), S. 55-78, zitiert nach Wikipedia, Artikel Rudolf Gerber

16 Festschrift 1970, S. 13

17 Richard Eichenauer: Musik und Rasse, 2. verbesserte Auflage, München 1937, S. 194

18 Eichenauer 1937, S. 301

Keine Kommentare

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.