Mit dem musikalischen Drama »Semele« feierte am 19. Mai im Deutschen Theater die diesjährige Festspieloper in der Inszenierung von George Petrou ihre umjubelte Premiere.
Worum geht es? Der Verführer und Charmeur Jupiter hat in seiner Menschengestalt eine Affäre mit Semele. Diese lässt sich durch den Gott bereitwillig verführen und möchte ebenfalls unsterblich werden. Dieses Verlangen führt sie direkt ins Verderben, beziehungsweise in den Tod. Bacchus ist das Produkt dieser Verbindung. Er holte dem Mythos zufolge seine Mutter aus dem Hades zurück und machte sie damit doch sozusagen „posthum“ unsterblich. Die eifersüchtige Gattin Jupiters Juno fädelt das Verderben Semeles durchtrieben ein.
George Petrou lässt seine Protagonist:innen in der Welt von heute auf den Spuren der mythologischen griechischen Helden wandeln. Das trägt dann bisweilen sehr komische Züge, die aber sehr bewusst gewählt sind, denn auch das Libretto enthält komische Elemente. Auf der Bühne des Deutschen Theaters erscheint Semele einmal wie eine Influencerin, die für das Publikum posiert, während sie einen Eisbecher auslöffelt. Das von Drachen bewachte Lustschloss, in dem Semele als Mätresse lebt, entpuppt sich als Club, der von zwei scharfen Türstehern bewacht wird.
So entsteht ein Kaleidoskop verschiedener Episoden, geprägt von Semeles Gier und Eitelkeit, gespickt mit komischen Elementen – und vor allem großartiger Musik von Georg Friedrich Händel. George Petrou hat für die Festspieloper 2023 namhafte Solistinnen und Solisten verpflichtet.
Die Sopranistin Marie Lys war bereits 2017 als Adelaide in Händels »Lotario« zu Gast in Göttingen. Als Semele steht sie nun als Titelheldin auf der Bühne. Sie ist in der Premiere eine Semele, die erst allmählich in Fahrt kommt. Sie zeigt großes Schauspieltalent, ihr wahres stimmliches Können kommt erst im zweiten und dritten Akt zum Vorschein.
Jeremy Ovenden ist mit seinem hellen, geschmeidigen Tenor ein auch stimmlich überzeugender Verführer Jupiter.
Am Vortag begeisterte sie noch als rasend eifersüchtige Gattin des Hercules in Händels Oratorium das Publikum. Als Semeles Schwester Ino ist die Mezzosopranistin Vivica Genaux kaum wiederzuerkennen: sie steckt in einem Kostüm, das ihr eine enorme Körperfülle verleiht, und unter einer Perücke mit feuerroten Haaren. Aber auch stimmlich scheint sie verändert, will sich vielleicht in dieser Rolle künstlich verstellen. Das führt aber zu klanglichen und intonatorischen Problemen. Erst als sie das Kostüm und damit diese Rolle ablegt und als Juno auf der Bühne agiert, läuft sie zu Hochform auf.
Der Countertenor Rafał Tomkiewicz überzeugte schon in 2022 in »Giulio Cesare«. Jetzt betritt er als der böotische Prinz Athamas die Bühne. Er soll eigentlich Semele heiraten. Nach der abgebrochenen Zeremonie gesteht ihm Ino ihre Liebe. All diese Verwicklungen lassen Athamas einige halsbrecherische Arien singen – die Tomkiewicz mit Bravour meistert.
Auch Riccardo Novaro war im letzten Jahr zu hören. In Semele übernimmt der Bariton verschiedene Rollen, als Cadmus, Hoherpriester und am besten als Schlafgott Somnus – hier zeigt er neben seinem sängerischen auch großes komödiantisches Können.
Als Junos Botin Iris scheint die talentierte Sopranistin Marilena Striftombola als Stewardess frisch aus der Amazon-Serie PanAm entstiegen. Und als Liebesgott Cupid (Amor) fächelt sie den Liebenden mit ihren samtigen Flügeln zu.
Und dann ist da noch der Chor. In einem Oratorium hat er musikalisch in der Regel eine große Bedeutung. In den antiken Dramen fungiert er vor allem als Kommentator. George Petrou sprach dem Kammerchor Athen aber noch weitere Funktionen zu, denn Chorpartie ist gar nicht so groß. Dennoch sind es eine Menge Noten, die auswendig gelernt werden müssen. Die Mitglieder des Chores waren fast ständig auf der Bühne. Sie fungierten als Statisten oder auch als Bewegungschor und zeigten sich als wahre Verwandlungskünstler. Hin und wieder durften sie auch singen. Dass sie das hervorragend können, hat der Kammerchor Athen (Einstudierung Agathangelos Georgakatos) dann auch sofort unter Beweis gestellt. Im Laufe der Festspiele ist der Kammerchor Athen auch mit einem eigenen Konzert zu hören (am 22. Mai um 19.30 Uhr in der St. Marienkirche Göttingen).
Für das Bühnenbild, die Kostüme und die Lichtregie dieser Koproduktion mit der Oper Athen waren Paris Mexis und Stella Kaltsou zuständig. Sie entwarfen große Bilder, die Motive der Antike aufgreifen. Sie bilden einen sehr schlüssigen und passenden Rahmen für die Personenführung auf der Bühne des Deutschen Theaters in Göttingen.
Der überzeugendste Star des Abends ist das FestspielOrchester Göttingen: Brillant in jedem Takt, flexibel, genau, virtuos und gefühlvoll folgen sie dem engagierten und emotionalen Dirigat von George Petrou. Neu in der Zusammenstellung der Instrumente ist die Orgel in dem kleinen Orchestergraben, die der Musik eine zusätzliche Klangfarbe verleiht.
Am Ende der knapp vier Stunden gab es viel Jubel und Applaus des Premierenpublikums. Weitere Aufführungen gibt es am 20., 23., 27. und 28. Mai 2023 im Deutschen Theater Göttingen. Im November ist die Produktion im Olympia Municipal Musiktheater »Maria Callas« in Athen zu sehen.