Liebes Aris-Quartett,
Du glaubst gar nicht, was ich für einen Sonntag hatte: am Morgen durfte ich mitwirken an der Aufführung der Bach-Kantate BWV 140 „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Anschließend habe ich noch zwei Texte über zwei sehr unterschiedliche Konzerterlebnisse geschrieben – über das Göttinger Jazzfestival und über das Konzert des Singkreis St. Paulus. Am Nachmittag erlebte ich eines der eindrücklichsten Konzerte in diesem Jahr in Göttingen: zum Gedenken an das Ende des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erklang unter anderem „In Terra Pax“ von Frank Martin. Das ging unter die Haut!
Etwas ermattet begab ich mich am Abend in die Aula der Universität. Mich erwartete ein Streichquartett eines spanischen Komponisten, stilistisch zwischen Haydn und Mozart angesiedelt, wie mir das Programmheft versprochen hat. („Schlicht“ nannte es Dein Cellist Lukas Sieber.) Etwas Leichtes also zur Vorspeise. Anschließend angewandte Zwölfton-Musik als Hauptgang – nun ja, das wird man überleben. Und als Dessert etwas Romantisches von Brahms.
Jäh hast Du mich aus meiner musikalischen Übersättigung gerissen: schon die ersten Takte des Streichquartetts Nr. 1 von Juan Cristósomo de Arriaga waren hoch emotional, energisch und dicht. Wie „schlicht“ man dieses Werk des begabten baskischen Komponisten, der nur 20 Jahre alt werden durfte, auch hören kann, zeigen die diversen Aufnahmen von zum Teil hochkarätigen, etablierten Ensembles. Du aber machtest ein Erlebnis daraus.
Und das wurde auch die Lyrische Suite für Streichquartett von Alban Berg. Dieses Werk ist ein Leckerbissen für Musikwissenschaftler und Kenner. Es stecken so viele Anspielungen in der Musik, die einem Laien erst einmal erklärt werden müssen. Wenn man jedoch diese Komposition in der Zwölftontechnik, die Arnold Schönberg postuliert hat, so spielt wie Du, wird auch aus der eher technischen, artifiziellen Musik ein emotionales Erlebnis, das die Zuhörer in der Universitätsaula aufwühlt – mich zumindest. Die unerfüllte Liebe Alban Bergs zu Hanna Fuchs-Robettin (die jüngere Schwester Franz Werfels) mit all ihren Facetten war bis zum Schlusssatz Largo desolato spürbar. Liebes Aris Quartett – ich hatte bislang nicht erlebt, dass Zwölftonmusik dermaßen unter die Haut gehen kann. Vielen Dank dafür!
Es war dann auch klar, dass das Streichquartett c-Moll Nr. 1 von Johannes Brahms keine leichte Süßspeise werden würde. Du hast mit Anna Katharina Wildermuth und Noémi Zipperling an der Violine, Caspar Vinzens an der Viola und Lukas Sieber am Cello die zahlreichen motivischen Verflechtungen zum Strahlen gebracht. Du hast gezeigt, dass diese Musik eine besondere Stellung in der Literatur der Kammermusik einnimmt: für Arnold Schönberg waren die Streichquartette die Quelle seiner eigenen Entwicklung. Und damit hast Du in der Programmgestaltung dem Jahresmotto der Göttinger Kammermusikgesellschaft perfekt entsprochen: Variation und Entwicklung.
Liebes Aris-Quartett, vielen Dank für dieses unglaubliche Konzert, dass diesen Tag, der für mich mit Bach angefangen hatte und dank Deiner Zugabe mit Bach endete (1. Kontrapunkt aus Die Kunst der Fuge) zu einem absolut runden, großartigen und hoch erfüllten Tag gemacht hat.
Herzlich grüßt
Jens Wortmann