Die St. Johanniskirche während der Stummfilmaufführung | © Photos: Beckmann
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18. Göttinger Stummfilmfestival

Die Orgel als emotionales Zentrum der Aufführung

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Stummfilmklassiker »Sunrise« in der St. Johanniskirche mit Bernd Eberhardt an der Orgel
von Marie Beckmann, erschienen am 29. März 2025

Mit dem Stummfilmklassiker »Sunrise – A Song of Two Humans« von Friedrich Wilhelm Murnau startete am 27. März 2025 das 18. Göttinger Stummfilmfestival. Bereits zum vierten Mal fand die Eröffnung des Festivals in der St. Johanniskirche statt. Die Bilder, die sich im Altarraum auf einer großen Leinwand abspielten, wurden dabei live an der Orgel von Bernd Eberhardt vertont. Ein Abend, der eindrücklich zeigte, wie gut der Stummfilm in die Kirche passt. 

Sunrise St.Johanniskirche Leinwand1 MBeckmann900»Sunrise« ist ein Liebesdrama basierend auf Hermann Sudermanns »Die Reise nach Tilsit«. Der Protagonist, gespielt von George O’Brien, führt ein beschauliches Landleben mit seiner Ehefrau, bis er von einer Frau aus der Stadt verführt wird und eine Affäre mit ihr eingeht. Sie überredet ihn, seine Ehefrau bei einer Bootsfahrt auf dem See zu ertränken, um mit ihr in die Stadt zu ziehen. Gerade noch rechtzeitig wird dem Bauern das Ausmaß seiner Taten bewusst und er stoppt im entscheidenden Augenblick. Seine Frau, gespielt von Janet Gaynor, flieht verängstigt in die Stadt, wo sich die beiden wiedertreffen und den Tag gemeinsam verbringen. Im lebhaften, aufregenden Stadttrubel finden die beiden wieder zueinander und ihre Liebe entflammt erneut. Doch das Glück weilt nicht lange, denn kurz darauf ist ihre junge Liebe durch widrige Umstände schon in Gefahr. »Sunrise« ist dramatisch und tragisch, aber immer wieder durchsetzt von kleinen ironischen, humoristischen Momenten. Der als Meisterwerk bezeichnete Film aus dem Jahr 1927 gewann, so erzählt uns Oliver Clark (Lumière und Méliès) in einem kurzen Intro, drei Oskars unter anderem in der Kategorie »Unique And Artistic Picture« für seine neuen und innovativen Filmtechniken. 

Bereits in den ersten Minuten der Vorstellung wird klar, warum der Stummfilm so gut in die Kirche passt. Hier kann die Orgel ihr volles Potenzial entfalten und ein vollkommenes Kinoerlebnis erschaffen. Über die 91 Minuten hinweg kreiert Bernd Eberhardt an der Orgel einen pausenlosen Klangteppich, in dem Leinwand und Musik untrennbar zu einem beständigen Flimmern verschmelzen. Musik und Bild existieren hier nicht nebeneinander – sie greifen ineinander und bilden eine erzählerische Einheit. Die Musik gibt uns Einblick in das Innenleben der Figuren, ihre Intentionen und die Stimmung zwischen ihnen. Während die Schwarz-Weiß-Bilder über die Leinwand in der dunklen Kirche flackern, ist die Orgel als emotionales Zentrum der Aufführung in tiefem Rot und Blau angeleuchtet. Bernd Eberhardt macht die Zerrissenheit des jungen Protagonisten hörbar und erlebbar. Schuld, Hadern und Sehnsucht vermischen sich in der Musik zu einem ruhelosen Umtriebensein, geprägt von Dissonanzen und stolpernden Fragmentierungen. Im Gegensatz dazu wirkt die Ehefrau wie ein Symbol der Unschuld und Reinheit. Die musikalischen Darstellungen der beiden treffen aufeinander, verschmelzen und lösen sich, während sich die tiefe Schuld des Protagonisten über ihren gemeinsamen Städtetrip hinweg allmählich abschwächt. Die Musik lenkt den Fokus der Erzählung auf das emotionale Erleben der Protagonist:innen. Gleichzeitig übernimmt sie auch immer wieder bildliche Elemente aus dem Film und verarbeitet diese. Einzelne Bewegungen, wie etwa ein Stolpern, werden bildhaft vertont und später verbinden sich Bild und Musik auf einer tieferen Ebene, als die Protagonist:innen plötzlich selbst in einer Kirche sitzen. Bernd Eberhardt erweckt an der Orgel den Film zum Leben und verleiht ihm eine kraftvolle musikalische Stimme. 

Auch der Raum selbst macht die Kirche zu einem so wunderbar geeigneten Aufführungsort. Die Weite des Kirchenschiffs gibt den Bildern genug Raum, zusammen mit der Musik zu resonieren. Das Flackern der Schwarz-Weiß-Bilder im hohen, nur durch die Kirchenfenster beleuchteten Gewölbe hat schon etwas Mystisches.

Am Ende bleibt noch das Gefühl, mit einem geschärften Blick für die Stimmungen um uns herum aus der Vorstellung zu gehen und die stille Erkenntnis, dass es manchmal gar nicht viele Worte braucht. 

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