Das laute Quietschen kreischender Bremsen, ein schriller Schrei, zuckende Lichtblitze, Dunkelheit. Der Zug ist zum Stillstand gekommen, aufgehalten durch eine Schneewehe irgendwo zwischen Sofia und Belgrad. In einem der Schlafwagenabteile liegt ein toter Mann. Getötet durch acht Messerstiche, Blut rinnt aus seinem Mund. Auf der dichten Schneedecke sind keine Spuren zu erkennen. Der Mörder oder die Mörderin muss sich noch im Zug befinden.
Das ist die Ausgangslage in der Produktion des Puppentheater Halle, das im Deutschen Theater mit »Mord im Orient Express« zu Gast bei den Göttinger Figurentheatertagen war.
Zufällig reist auch Zug Hercule Poirot, ein belgischer Detektiv, mit diesem Zug und wird von seinem Freund Monsieur Bouc, dem Betreiber des Orient-Express gebeten, den Fall aufzuklären. Die illustren Reisenden, die im Folgenden von Poirot befragt werden, verwirren ihn durch falsche Indizien, erfinden eine nicht existente verdächtige Person, inszenieren eigene Ängste, eine Mitreisende hat sich sogar selbst angeschossen.
Sie alle, Damen und Herren, zumeist der High Society – so findet Poirot heraus – verbindet eines: ein persönlich als tragisch erlebter Verlust. Die Ermordung der 5-jährigen Daisy Armstrong hat neben dem Kind auch deren Eltern und das Kindermädchen aus dem Leben gerissen. Die Reisenden sind alle durch Treugelöbnisse, Liebe oder Verwandtschaft von diesen Toden betroffen und üben gemeinsam Rache an dem unter falschen Namen Reisenden Bruno Casetti, den die Hinterbliebenen für Daisys Mord verantwortlich machen. In einem makabren Akt der Selbstjustiz leben sie ihre Rachegelüste aus und lynchen Casetti. Jede und jeder der Mitreisenden verübt einen der Messerstiche, zaghaft, zögerlich oder mit Hass und Wonne, triumphierend oder schuldbewusst. Alle sind sich einig, dass dieser Mann den Tod verdient hat.
Diese Handlung des Romans Mord im Orientexpress, den Agatha Christie 1934 verfasste, ist hinreichend bekannt, nicht zuletzt durch zahlreiche Verfilmungen, deren letzte 2017 Premiere feierte, weshalb der Nervenkitzel der Ermittlung nicht sein kann, was das Publikum mitreißt. Dennoch bricht der tosende Applaus am Ende der Vorführung kaum ab, und dies liegt an der Inszenierung des Stoffes durch das Ensemble des Puppentheaters Halle unter der Regie von Christof Werner.
Tatsächlich ist die Gestaltung des Geschehens bemerkenswert. Die etwa einen Meter großen Figuren werden von jeweils zwei Spielern geführt, wobei einer der Spieler die Figur aufrecht hält und die rechte Hand bedient, der zweite Spieler die Beine bewegt und die Bewegung der linken Hand gestaltet. Vier Spielerinnen und vier Spieler verleihen den als sehr eindrucksvolle Typen gestalteten Figuren ihren jeweils eigenwilligen Charakter. Da ist die distinguiert abgehobene Prinzessin, Natalia Dragomiroff, die lüstern-laszive Gräfin Andrenyi, die verunsichert nervöse Schwedin Greta Ohlsson und die selbstgerecht grantige Mrs. Hubbard. Aufgelöst, Mary Debenham in einer geheimen Liaison mit dem eitel charmanten James Arbuthnot. Auch die Herren, der schmächtig schüchterne Schaffner Michelle und der joviale Bahngesellschaftsdirektor Monsieur Bouc, der wortkarg scheue Diener von Casetti und der getrieben scharfinnige Hercule Poirot werden durch eine starke schauspielerische Leistung und die liebevolle Gestaltung der Figuren als ausdrucksstarke, vielschichtige Persönlichkeiten erfahrbar.
Das Bühnenbild ist ebenfalls raffiniert und bietet viele Spielmöglichkeiten. Die drei sichtbaren Abteile können mithilfe von Schieberolläden geöffnet und geschlossen werden. Als zweite Rampe dient ein langer niedriger Holztisch. In diesem Raum agieren die Figuren lebendig und bewegt, diskutieren, hasten, tanzen, lieben und streiten sich und lynchen in martialischer Weise den Ganoven Casetti, der als einziger während des ganzen Stückes von einem leibhaftigen Schauspieler verkörpert wird.
Auch das Ensemble der Akteure, alle ganz in schwarz gekleidet, mit schwarzen Hüten agiert immer wieder schauspielerisch in gemeinsamen Bewegungssequenzen, choreographischen und pantomimischen Einlagen, bildet ausdrucksstarke Arrangements und Tableaus, die Schauspieler umrahmen und beleben das Spiel der Figuren. Am Schluss werden die Figuren vollständig von den Akteuren abgelöst. Die unterschiedlichen Stimmen und Aussagen lassen erkennen, wer wen verkörpert, die Symbiose ist geglückt.
Zum Gelingen des grandiosen Theater-Erlebnisses tragen auch gekonnt eingesetzte Lichtstimmungen sowie die akustisch musikalische Gestaltung bei. Die Musikstücke reichen dabei von melancholischem und tiefgründig bewegendem Klavier und Streicherpassagen bis hin zu orientalischen und Klezmerklängen. Die Spieler lassen dann auch im wahrsten Sinne des Wortes die Puppen tanzen.
Das Publikum ist sichtlich begeistert und applaudiert minutenlang den ausgesprochen sympathischen Spielern, die sich am Schluss noch mehrmals die Hüte hebend verbeugen. Schöner kann der 70. Geburtstag, den das Puppentheater Halle in diesem Jahr feiert, kaum begangen werden.