Christoph Ransmayr ist an diesem Abend nicht zum ersten Mal in Göttingen. 2018 war er das letzte Mal hier und er erzählt von seiner persönlichen Verbindung zu Göttingen: Sein verstorbener Bruder habe in Göttingen lange am Theater gespielt und so liest er diesen Abend in seinem Andenken.
Ransmayr liest aus seinem Erzählband »Als ich noch unsterblich war« vier Geschichten vor. Beginn der Lesung ist 21:00 Uhr und Ransmyr gelingt es mit seinen Erzählungen, die Müdigkeit der Anwesenden zu vertreiben. Dies schafft er nicht durch laute Worte, sondern durch seine eigene ruhige und tiefsinnige Art, mit der er Müdigkeit in interessierte Aufmerksamkeit verwandelt. Er selbst spricht davon, zwischen Zuhören und Träumen hin und her zu gleiten und trifft die Stimmung perfekt.
Seine Erzählungen sind biografisch geprägt und Ransmyer erklärt, warum er sie geschrieben hat. In einem oder mehreren Romanen wäre er nicht in der Lage, all die Erlebnisse und Gefühle, die er noch habe aufschreiben wollen, zu Papier zu bringen aus «rein mathematischen Gründen», seien diese Geschichten also zu Erzählungen geworden. Die Erlebnisse entsprächen der Wahrheit, aber aufgeschrieben seien sie in Sprache verwandelt zu Geschichten geworden. Die Wort- und Sprachkunst, die in seinen Erzählungen überzeugen, hört man ihm auch beim Reden an. Während er liest, sieht er immer wieder ins Publikum und erzählt so mehr als vorzulesen. Als er in seiner Erzählung seinen Arm ausstreckt, hebt er auch in Göttingen seinen Arm. Es macht Spaß, ihm zuzuhören.
Die ausgewählten Erzählungen des Abends sind sehr verschieden: Mal ist Ransmayr ein Kind, mal im Schnee wandern und dann wiederum begegnet er in Afrika Gorillas. Sie malen ein Bild eines interessanten Mannes, der die Welt gesehen hat und viel von ihr gelernt hat. Dabei eint die Erzählungen vor allem eins: Menschlichkeit, Wärme und Liebe zu all dem, wovon Ransmayr spricht.
Ransmayr gelingt schon mit seiner ersten Geschichte «Als ich noch unsterblich war», die dem Erzählband auch seinen Namen gibt, ein großartiger Auftakt. Sie handelt von ihm als Kind, der begeistert aus den Buchstaben der Buchstabensuppe immer neue Wörter und Geschichten erfindet. Ransmayr beschreibt sein eigenes Erlebnis und wird dem Publikum durch so ganz alltägliche Beschreibungen wie die der Buchstabensuppe sehr nah. Poetisch macht er von dort spielend leicht den Übergang zu der Bedeutung von Schrift und Sprache und dem Zauber des Lesens und Schreibens. Es ist ein Zauber, den auch Ransmayr beherrscht.
Danach erzählt Ransmayr von seinen Reisen vom Himalaya durch Sri Lanka bis nach Afrika. Die Erlebnisse, die er beschreibt, sind verschieden, die Emotionen und die Stimmung dabei aber immer gleichbleibend. Es ist ein erstaunliches Interesse zu den fremden Menschen, Landschaften und Kulturen zu erkennen, die die meisten Zuhörenden nur aus Geschichten kennen. Dazu kommen Ransmayrs Toleranz, Neugier und vor allem Erzählkunst, die all das zu Geschichten verarbeiten. Es sind Geschichten aus seinem Leben, aber er spielt in keiner eine große Rolle. Am meisten geht es um das Neue, das Schöne und Ransmayer erzählt davon mit einer berührenden Zuneigung.
Und trotz allem gelingt es ihm auch etwas kritischer zu werden. Er schreibt und spricht von Ausbeutung, Kolonialismus und Ungerechtigkeiten und prangert diese an. All das, ohne dabei eine moralische Überlegenheit an den Tag zu legen. Stattdessen witzelt er über seinen deutschen Akzent, während er versucht Gorilla-Laute nachzumachen und schreibt von «Seelen – oder was immer Europäer in der Brust tragen». Er schafft es zu kritisieren, ohne zu belehren und erschafft so eine offene Atmosphäre, die heute immer seltener wird.
Ransmayrs vierte Erzählung ist die letzte, sie lässt den Abend ausklingen und endet mit den Worten: «Es ist gut. Alles ist gut.» So endet auch eine Lesung, die Ransmayrs Gespür für das Publikum und seine ganz besondere Ruhe und Besonnenheit zeigt. Mit Vorfreude kann man nun auf den 27. November warten, an dem Ransmayrs Mikroromane «Egal wohin, Baby» erscheinen sollen.