Eine tragische Komödie über Rache, Gerechtigkeit und die Käuflichkeit beider Dinge. Die Uraufführung des Stücks „Der Besuch der alten Dame“ des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt liegt zwar schon 69 Jahre zurück, trotzdem ist der Inhalt dessen aktueller denn je. Dies zeigte Christian von Treskow mit seiner Inszenierung des Dramas in drei Akten, welche am 31. Januar seine Premiere im Jungen Theater Göttingen feierte.
Die Handlung des Stücks ist platziert in der europäischen Stadt Güllen. Einst prächtig und angesehen – heute verwahrlost und heruntergekommen. Die Bürger, in ihrer Armut verzweifelt, haben allerdings eine letzte Chance: Der Besuch der Milliardärin Claire Zachanassian (Agnes Giese). Als einstige Bürgerin der Stadt Güllen, unter dem Namen Kläri Wäscher bekannt, macht diese ein verlockendes wie unmoralisches Angebot: eine Milliarde für die Stadt im Austausch für den Mord an Alfred III (Jan Reinartz) – ihrem einstigen Geliebten. Claire hat durch ihn in der Vergangenheit nämlich ein großes Unrecht erfahren, weshalb sie sich nun mit der Macht ihres Geldes ihre Rache – oder wie sie es nennt: Gerechtigkeit –erkaufen will.
Der grausamen, korrumpierten und gleichzeitig charmanten, abgeklärten Konzeption verschafft Giese dabei die entsprechende autoritäre Präsenz, sodass die Unabwendbarkeit ihrer Macht auch bei physischer Abwesenheit der Figur noch immer spürbar ist. Besonders durch den Kontrast der erhabenen Monologe und privaten, ehrlichen Momente im Wald, in denen sie trotzdem nie ihre Souveränität verliert, mediiert Giese eine hochkomplexe, tragische und auch sympathische Figur, die trotz aller Grausamkeiten selbst am Ende nicht als die Gegenspielerin entlarvt werden kann, die sie eigentlich ist.
Und auch der Rest des Ensembles besticht durch schauspielerische Präzision. Die Besuchten, darunter der Bürgermeister (Malin Kraft), der Lehrer (Jens Tramsen), der Polizist (Thyra Uhde) und der Arzt (Fynn Knorr), funktionieren plakativ als Symbole für die Korrumpierbarkeit des Kollektivs. Die Bewegungen und Körperhaltungen jener Figuren sind intendiert unnatürlich, in Teilen puppenhaft und schlangenhaft biegsam. Bildsprachlich für die Rückgratlosigkeit, Nachgiebigkeit und Labilität der eigenen Überzeugungen. Positiv zu erwähnen ist in diesem Zuge auch die anpassungsfähige Variabilität der Schauspieler:innen. Die Figurenanzahl des Stücks überschreitet nämlich sichtbar die Anzahl des Ensembles, dabei findet der Rollenwechsel der Darstellenden meist nahtlos harmonisch und meisterhaft organisch direkt auf der Bühne statt.
Der Dramaturgie des Stücks (Christian Vilmar) gelingt es außerdem, sowohl humoristisch die anfängliche Ausgezehrtheit und aufkeimende Hoffnung unter den Einwohnern Güllens darzustellen als auch das Stück analog zur sukzessiv verfallenden Moral in eine düstere Stimmung zu überführen. Das Schicksal von Alfred III kommt dem Publikum trotz seiner Schuld zunehmend falsch vor, während gesellschaftlich von Aufarbeitung und Gerechtigkeit gesprochen wird. Die Inszenierung beeindruckt mit einer ungeschönten Darstellung des Heuchlertums, das allerdings nicht an und für sich existiert. Es ist die Omnität des Geldes, welches die Armen unterwirft und die Reichen grenzenlos ermächtigt. Die Erosion der Moral der Güllener konnte nur aus einer wirtschaftlichen Not heraus entstehen, welche Claire opportun ausnutzt, um mithilfe ihrer monetären Potenz moralische Prinzipien zu ihren Gunsten auszuhebeln. Auf erschreckende Art und Weise zeigt die Neu-Interpretation des Stücks, dass Gerechtigkeit in einer kapitalistischen Welt nichts ist als eine Ware der Reichen. Allerdings ist der rechtsstaatliche Begriff der Gerechtigkeit pervertiert – wer reich ist, der kann tun, was immer ihm recht ist.