Wie oft stellt man sich im Leben die Frage: „Wer bin ich – und wer will ich sein?“ In welche Version seiner selbst wird man durch gesellschaftliche Erwartungen und Vorstellungen gedrängt, und wo bleibt der Raum für wahre Freiheit? Manchmal genügt ein einziger Moment, eine schmerzhafte Erkenntnis oder eine unerwartete Grenzüberschreitung, um sich diese Frage mit neuer Dringlichkeit zu stellen – und das Leben mutig in ein Davor und ein Danach zu teilen. In »Die schönste Version«, geschrieben von Ruth-Maria Thomas stehen genau diese Fragen im Zentrum: Jella, die Hauptfigur, hat ihren Moment des Umbruchs bereits erlebt. Nach einem einschneidenden Erlebnis steht sie vor den Trümmern einer Beziehung, die sie sich selbst entfremdet und ihrer Freiheit beraubt hat. Doch Jella ist auf der Suche nach mehr - nach ihrer eigenen „schönsten Version“.
Am 21. März hatten die Besucher:innen der Göttinger Frühjahrslese die Gelegenheit, die Geschichte von Jella und Yannick im Rahmen einer Lesung von Ruth-Maria Thomas auf besondere Weise zu erleben. Moderiert wurde der Abend von der ebenfalls als Autorin tätigen Sophia Fritz, die hier ihre erste Lesung begleitete. Mit angenehmer Ruhe und einem liebenswerten Charme gelang es Sophia Fritz, ihre Nervosität zu überspielen und die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen. Ihre einfühlsame Moderation trug dazu bei, dass auch eine kurzfristige Programmänderung seitens der Autorin nicht zu Unsicherheit führte, sondern die Stimmung des Abends auflockerte und eine freundschaftliche Atmosphäre schuf – sowohl auf der Bühne als auch im gesamten Raum.
Das Thema des Buches ist jedoch alles andere als unbeschwert. Es geht um versteckte und offensichtliche Grenzüberschreitungen bis hin zu häuslicher Gewalt. Beginnend bei der prägnanten Thematik, der gesellschaftlichen Doppelmoral, die sich oft in der Wahrnehmung von Frauen und Männern manifestiert, wenn es um ihre sexuelle Vergangenheit geht. In der von Ruth-Maria Thomas vorgelesenen Szene des zweiten Dates atmet Yannick zum Beispiel erleichtert aus, als Jella ihm eine niedrige Zahl an Erfahrungen vorschwindelt, um eine für ihn „perfekte Version“ zu sein.Auch demütigendes und bevormundendes Verhalten durchzieht die Geschichte, mal in subtilen Spitzen, mal in erschreckender Deutlichkeit, stets darauf ausgerichtet, Kontrolle zu bewahren. Der Satz „Wir brauchen diese Hitze“ wird zur Ausrede für heftige Streitigkeiten, die nicht selten in Übergriffen enden.
Der Schreibstil der Autorin ist ebenso vielschichtig wie die Themen, die sie anspricht. Einerseits ist er subtil und feinfühlig, oft sogar poetisch. Andererseits lässt Ruth-Maria Thomas immer wieder eine sehr direkte und teils vulgäre Sprache in ihre Erzählung einfließen, in der es oft auch um die vergangenen Erfahrungen von Jella geht. Sie scheut sich nicht, der brutalen Realität Ausdruck zu verleihen, und verwendet kraftvolle, ungeschönte Worte, die einen tiefen Eindruck hinterlassen. Dieser Wechsel zwischen feiner, poetischer Sprache und roher, direkter Ausdrucksweise verstärkt die Intensität des Textes und macht die Geschichte zu einer packenden und emotional aufgeladenen Lektüre, die die Autorin mit viel Emotion und Betonung vermittelte.
Auch über die Entstehung des Buches und das Erwecken der Figuren wurde gesprochen – ein Aspekt, der der Autorin besonders viel Freude bereitet. Das Schreiben ist für sie eine Art Ventil geworden, um Erfahrungen, insbesondere als Sozialarbeiterin, zu verarbeiten. Auch eigene Erfahrungen werden angesprochen, in denen es besonders um die Sozialisierung von Frauen geht: Wann darf man sich zutrauen emotional zu sein – wann ist was angebracht? Mit diesem Buch will sie keine Leerstellen lassen und Tabus brechen. Dabei wirkte es immer wieder so, als könnte sie selbst gar nicht glauben, dass ihr Buch so erfolgreich geworden ist – eine Mischung aus ehrlicher Überraschung und Dankbarkeit, die sie während der Lesung immer wieder durchscheinen ließ und die sie vor allem authentisch und sympathisch machte.
Doch das Buch ist mehr als nur eine Auseinandersetzung mit Grenzüberschreitungen und Gewalt. Es geht auch um die kraftvollen Bande der Freundschaft, das komplexe Erwachsenwerden und die Entfaltung der eigenen Identität. Es erzählt von den vielen Facetten der Liebe, sei es in einer liebevollen Vater-Tochter-Beziehung oder in den Momenten der gegenseitigen Unterstützung zwischen Freundinnen. Es öffnet den Raum für all die Nuancen, die das Leben ausmachen, und zeigt, dass wir oft mehr als eine perfekte Version von uns selbst sind und uns nicht in diese hineindrängen lassen dürfen.
Die Lesung von Ruth-Maria Thomas war daher eine wunderbare Mischung aus Lachen und Weinen, ein intensives Wechselspiel der Gefühle, das die Besucher:innen berührte. Das Thema des Buches, so schwer und ernst es auch ist, betrifft tagtäglich unzählige Menschen – auch wenn es oft unausgesprochen bleibt. Es ist eine Realität, die in unserer Gesellschaft noch viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Die Lesung hat genau dieses stille Bewusstsein geweckt und einen Raum geschaffen, in dem das Unausgesprochene Gehör fand und eine Richtung für die Zukunft wies.