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Virtuoser Klangzauber

Bernd Eberhardt an der Orgel in St. Johannis | © Photo: Janine Müller

Rats- und Marktkirche St. Johannis Göttingen, Silvesternacht: In über 20-jähriger Tradition erklingt um 22 Uhr jährlich im Wechsel mit St. Jacobi das Silvesternachtkonzert, das sich alljährlich großer Beliebtheit erfreut. An diesem Abend im Jahr 2023 erklingen ausschließlich Orgeltranskriptionen, also Werke, die im Original einer anderen Besetzung zugedacht sind. An der Orgel sitzt Stadtkantor Bernd Eberhardt, rechts und links neben ihm 2 Registrantinnen, von denen die Verfasserin dieses Artikels eine ist.

1954/60 von der Orgelbauwerkstatt Paul Ott erbaut und 1999/2000 von der Meisterwerkstatt Rudolf Janke renoviert und erweitert, umfasst die Orgel 61 Register auf 4 Manuale und Pedal verteilt. Pro Manual stehen 10–13 Register, im Pedal 14 Register zur Verfügung. Jedes Register, also eine Pfeifenreihe, hat eine ganz spezielle Bauart und Klangfarbe und kann mit den Registerzügen an- und abgewählt werden. Zudem kann das Pedal mit den Manualen gekoppelt werden sowie die Manuale untereinander. Im letzteren Fall werden die Manuale mechanisch verbunden (der Organist spürt dies mit einem doppelten bzw. dreifachen Tastengewicht), sodass die Register der verschiedenen Manuale kombiniert auf nur einem Manual gespielt werden können. Analog dazu erklingen im Pedal auch die Register aus dem gekoppelten Manual - sofern sie gezogen wurden.

Der Konzertabend beginnt mit dem Concerto in d-Moll nach Antonio Vivaldi von J. S. Bach (1685–1750), BWV 596. In präziser und klarer Spielweise tönen die barocken Klänge durch die Kirche. Bernd Eberhardt schafft es, die einzelnen musikalischen Motive für die Zuhörenden barock graziös einem kleinen Kammerorchester gleich herauszustellen.

Es folgen vier Bach’sche Choralbearbeitungen aus der Sammlung der „Schübler-Choräle“: Kommst du nun, Jesus, vom Himmel herunter, BWV 650 • Wer nur den lieben Gott lässt walten, BWV 647 • Wachet auf, ruft uns die Stimme, BWV 645 • Wo soll ich fliehen hin, BWV 646. Und auch diese recht bekannten Orgelchoräle sind Bearbeitungen von Bachs eigenen Kantatensätzen für Soli und Orchester.

Das Highlight des Abends ist die 9. Sinfonie in e-Moll „Aus der Neuen Welt“ von Antonín Dvořák (1841–1904), für Orgel transkribiert von Zsigmond Szathmáry. Bernd Eberhardts Begeisterung für Orgeltranskriptionen sollte vielen Göttingern mittlerweile bekannt sein: „Die Planeten“ von Gustav Holst, kombiniert mit einer Lichtprojektion in der Kirche, Beethovens 5. Sinfonie und die Titelmusik von Star Wars sind nur einige Beispiele.

Mit Dvořáks Sinfonie wird es jetzt auch auf den Registrantinnen-Plätzen spannend. Bernd beginnt - noch habe ich alles im Blick. Nächste Seite. In Windeseile scanne ich, wo ich was zu tun habe. Die rund eingekringelten Hinweise sind für mich, die Hinweise in Rechtecken für meine Registranten-Kollegin. Ich suche also den nächsten Kreis, versuche die winzigen Bleistiftnotizen zu entziffern. In wenigen Sekunden soll ich 2 Fußwippen betätigen und 4 Register ziehen. Natürlich alles gleichzeitig und perfekt getimt. Wenn ich neben der Orgelbank stehen bleibe, wird das mit den 2 Fußwippen schwierig, also setze ich mich neben Bernd auf die Orgelbank, platziere meine Füße und versuche dabei, Bernd in seinem Pedalspiel nicht zu behindern. Jetzt noch schnell die Register suchen. Die Stelle rückt näher, aber eigentlich weiß ich gar nicht, wo Bernd gerade ist, ich suche noch die Register, Bernd nickt und - gerade noch geschafft. Die Register sind drin und die Fußwippen auch. Sofort geht es weiter. Ich bin ich wieder hektisch am Scannen und Suchen, immer in der Hoffnung, alles schnell genug zu erfassen.

Die Orgel in Johannis hat keine sogenannte Setzer-Anlage wie zum Beispiel die Orgel in St. Jacobi, mit der die Registratur eingespeichert und auf Knopfdruck abgerufen werden kann. An der Orgel in Johannis müssen alle Register von Hand gezogen werden. Diese befinden sich am Spieltisch rechts und links von den Manualen, sodass in der Regel 2 Registrant:innen benötigt werden. Für die oben erwähnten Koppeln gibt es in Johannis leider keine Registerzüge, sondern nur Fußwippen, die an sich dafür gedacht sind, dass der Organist sie selbst bedient. Aber wenn der Organist gerade alle Füße voll zu tun hat, müssen das die Registrantinnen mit übernehmen.

Der 2. Satz „Largo“ erinnert mich an das Auenland-Motiv aus der Filmmusik zu Herr der Ringe. Und Dvořáks sehnsuchtsvolle Klänge, beginnend mit einem musikalischen „Sonnenaufgang“, lassen bei mir tatsächlich das Bild dieses unbekümmerten, grünen Auenlandes entstehen. Ich bin fasziniert, wie gut sich der Orchesterklang auf der Orgel darstellen lässt. Ich habe Zeit zuzuhören, denn in diesem langsamen Satz ist es für mich leichter, dem Notentext zu folgen und ich habe tendenziell mehr Ruhe, meine Einsätze und die Register rauszusuchen.

Die Klänge des Orchesters auf die Orgel zu übertragen, obliegt der Interpretation des Organisten. Die einzelnen Stimmen müssen auf Hände und Füße aufgeteilt und entsprechend registriert werden – und diese Aufteilung muss natürlich auch aufwendig geübt werden. So entsteht selbst bei identischem Notentext an jeder Orgel nicht nur eine neue Interpretation, sondern auch ein neues Klangspektrum der Komposition.

Im 3. Satz „Molto vivace“ kommt neben dem Scannen meiner Einsätze und dem Suchen der Register eine weitere Herausforderung hinzu: Der Satz enthält mehrere Wiederholungen, ein „Da capo“ (von Anfang an) und einen Schlussteil, sodass mehrfach ein oder mehrere Seiten zurück und vor geblättert werden muss, und die Registrierungen unterscheiden sich teilweise. Ich fühle mich wie in einem Labyrinth. Ist das schon die Wiederholung? Wo müssen wir jetzt hinspringen? Muss ich jetzt schon registrieren oder erst beim nächstes Mal? Mir schwirrt der Kopf.

Und genau dies ist es, was Bernd Eberhardts so an Orgeltranskriptionen fasziniert: Die Herausforderung, der Kick, etwas fast Unmögliches zu schaffen. Er möchte Musik, die eigentlich nicht für Orgel gedacht war, möglichst originalgetreu auf die Orgel übertragen. Dass ihm das große Freude bereitet, sieht man an seinen leuchtenden Augen und seiner Spielfreude. Mit nur zwei Händen und 2 Füßen stellt er sich der Herausforderung, ein ganzes Sinfonieorchester mit all seinen Klangfarben auf nur ein Instrument zu übertragen. Und dies kann – wenn überhaupt – auch nur mit der Königin der Instrumente gelingen. Neben einer gewissen Instrumentengröße ist natürlich das künstlerische Können von entscheidender Bedeutung, kombiniert mit einer monatelangen Vorbereitung. Aus diesem Grund wagen sich nur wenige Organisten an Transkriptionen großer Orchesterwerke, sofern es sie überhaupt gibt. Denn das Interesse bei Verlagen, Transkriptionen zu veröffentlichen, ist mangels Verkaufszahlen gering. Wo es an Publikationen fehlt, setzt sich Bernd Eberhardt selbst dran. So verfasste er eigene Transkriptionen zu Beethovens 5. Sinfonie und dem Main Theme von Star Wars - handschriftlich!

Im 4. Satz „Allegro con fuoco“ habe ich trotz des „Feuers“ nicht ganz so viel zu tun. Ich habe Zeit, Bernd auf die Finger zu schauen - was die Zuhörer:innen schon den ganzen Abend tun.

Bereits beim Silvesterkonzert vor zwei Jahren wurde das Geschehen am Spieltisch für die Zuhörer:innen sichtbar auf eine Leinwand projiziert. Neu in diesem Jahr ist die Position der Kamera, die sich nun nicht mehr seitlich, sondern oberhalb des Spieltisches befindet, um noch mehr Einblick zu bieten. Dazu wurde eigens eine Holzkonstruktion gezimmert, mit welcher die Kamera oben am Rückpositiv hängt, ohne dieses zu beschädigen. Neu in diesem Jahr ist auch ein Live-Stream des Konzertes auf Youtube. So können die Zuhörer:innen in- und außerhalb der Kirche das Konzert nicht nur hören, sondern auch sehen und die künstlerische Ausführung mitverfolgen, welche sonst bei Orgelmusik aufgrund der Position der Orgel und des Spieltisches oft nur im Verborgenen geschieht. 

Spätestens bei Dvořáks 9. Sinfonie beobachtet das Publikum wahrscheinlich staunend mit offenen Mündern, wie Bernd Eberhardt virtuos über die Tasten fliegt, Hände kreuzend, über die Manuale springend, dabei noch Anweisungen zunickend, manchmal auch sprechend, und manchmal greift er auch selbst noch an die Registerzüge. Multitasking pur, und dabei spieltechnisch auf höchstem Niveau. Trotz der Komplexität ist jede Passage kunstvoll interpretiert und gestaltet, immer nah am Original. Er bringt auf die Orgel, was nicht für die Orgel gedacht war, und leistet dabei Unglaubliches.

Und das hat Bernd Eberhardt sich verdient: Tosender Applaus. Standing Ovations. Die Menge jubelt undzeigt damit die Anerkennung über diese grandiose Leistung eines außergewöhnlichen Organisten. Die Orgeltranskriptionen faszinieren nicht nur ihn, sondern machen die Orgel als Instrument noch interessanter und einem breiteren Publikum zugänglich.

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Janine Müller

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