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Ein wunderbar empathischer und filigran gewebter Theaterabend

Paul Trempnau, Nathalie Thiede, Rebecca Klingenberg, Anna Paula Muth, Tara Helena Weiß | © Photo: Klaus Hermann

So viel Blütenpracht und so viel blauer Horizont. Doch diese Weite sieht kaum jemand auf dem verschuldeten Landgut, wo die Menschen ausharren, keine Mutprobe wagen und nicht einmal ihren Sehnsüchten vertrauen. Sie könnten ja auch damit scheitern, während sie sich an ihrem beengenden Miteinander aufreiben. In ihren Mikrokosmos vertieft sich Erich Sidler mit Anton Tschechows Schauspiel »Der Kirschgarten« zum Auftakt der Spielzeit. Und wie am Abend zuvor bei Henrik Ibsens Schauspiel »Nora oder Ein Puppenhaus« in der Inszenierung von Marcel Gisler, bringt auch Erich Sidler mit seinem Ensemble verkorkste Seelenlandschaften zum Sprechen, was sie umtreibt und wie sie sich der Realität verweigern.

Noch ist die Stimmung auf der Bühne angespannt euphorisch. Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna (Rebecca Klingenberg) kehrt nach ihrem Aufenthalt in Frankreich endlich wieder heim. Sie schwärmt noch immer von ihrem Kirschgartenparadies, wie es bezaubert und beglückt, und lebt noch genauso verschwenderisch wie früher, als das Gut noch Gewinn erwirtschaftete und die Familie von den asozialen Verhältnissen und seinem leibeigenen Humankapital profitierte. Jetzt droht die Zwangsvollstreckung des Gutes, die sich auch verhindern ließe. Doch dafür müsste der Kirschgarten abgeholzt und das Land für den Bau von Datschen parzelliert werden. 

Der wohlmeinende Vorschlag des Kaufmann Lopachin (Paul Trempnau) wird auch von dem brüderlichen Verschwender Leonid Andrejewitsch nicht einmal in Erwägung gezogen. Alles soll weitergehen wie immer, mit kleinen Festlichkeiten und den oberflächlichen Geselligkeiten, bei denen sich der ebenfalls verschuldete Gutsbesitzer Boris Borisowitsch (Ronny Thalmeyer) ebenso gerne einfindet wie der ehemalige Haulehrer und Langzeitstudent Trofimow (Bastian Dulisch) mit seinen revolutionären Platitüden und der meist bekümmerte Kontorist Semjon Pantelejewitsch (Benjamin Kempf). Auch Tochter Anja (Anja Paula Muth) und Adoptivtocher Warja (Tara Helena Weiß) umschwärmen die mütterliche Hofhaltung mit den Visionen von einem heimatlichen Zuhause. Daran wollen sich Gouvernante Charlotta Iwanowna (Marie Seiser) und Zimmermädchen Dunjascha (Nathalie Thiede) vorerst ebenso halten wie der junge Diener Jascha (Christoph Türkey) und die alterweise, dienstbeflissene Seele des Hauses Firs (Johannes Granzer).

Bühnenbildner Jörg Kiefer hat die drei Bühnenwände mit einem Kirschgartenpanorama ausgestattet, das mit den Videoaufnahmen von Jonas Link in verschiedenen Farbstimmungen schimmert und manchmal aufleuchtet und so auch die Begegnungen in diesem Mikrokosmos einfärbt, bei denen Vieles nur in Andeutungen mitteilbar wird, während sich der Tag der Versteigerung nähert.

Drei schlichte Bänke bilden das Bühnenmobiliar, das für scheinbar intime und scheinbar alltägliche Begegnungen immer wieder verschoben wird, während die Figuren ihr Innenleben nicht nur in Worten abschirmen. Auch in den Choreografien von Valentin Rocamora i Torà scheinen sie in ihren bewegenden Gesten wie hinter einem Schutzschild zu verharren, der die Nähe scheut und den Schmerz nach einer möglichen Enttäuschung. Manchmal verweilen sie einfach nur stumm vor dem Kirschparten-Panorama, als ob sich der Blick dem offenen Horizont hinter dem absterbenden Blütenidyll verweigert, das schon so lange kaum noch Früchte trägt. Was wäre, wenn es eine gemeinsame Zukunft für Warja und Lopachin gäbe, wenn Anjas Schwärmerei für Trofimow realistische Bodenhaftung bekäme, Dunjascha sich endlich von diesem selbstverliebten Jascha lösen könnte oder wenn die ständig über den Dingen schwebende Gutsherrin sich zu einem vertrauenswürdigen Gefährten wie Lopachin bekennen könnte?   

Nichts davon wird eintreffen, auch wenn die leisen Wünsche wie unvorstellbare Mutproben. beim letzten sommerlichen Fest in dem melodischen Aufruhr mit einem Walzer aus der Jazz Suite von Dmitri Schostakowitsch noch einmal mitschwingen dürfen. Da sind schließlich noch die vertrauten Macht- und Herrschaftsstrukturen einer elitären Klassengesellschaft und die Angst, was nach ihrem drohenden Zusammenbruch kommt, wie sich die Verhältnisse ändern werden und viel Freiheit sie wirklich versprechen. Selbst durch Lopachin geht ein Riss, wenn er das Gut ersteigert hat und Paul Trempnau ihn zwischen Euphorie, Machthunger und Unglauben erzittern lässt, weil jetzt der Nachkomme von Leibeigenen das gesellschaftliche Ranking für sich beanspruchen kann, das der Gutsbesitzerin künftig verweigert wird.  Die träumt sich zum Abschied noch mal in ihre Erinnerungswelt hinein und wird auch weiterhin daran festhalten, während sich das Kirschblütenpanorama silbergrau verfärbt, als ob es in eisiger Kälte erstarrt. 

Mit ihm erstarrt auch der alte Diener Firs, den die Reisegesellschaft bei ihrem Aufbruch vergessen hat. An seiner Livree hat sich das Kirschblüten-Design verdunkelt. Verdunkelt wird auch der Bühnenraum, in dem jetzt absolute Stille herrscht, bis das Premierenpublikum einen wunderbar empathischen und filigran gewebten Theaterabend mit euphorischem Beifall feiert.

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Tina Fibiger

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