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Artikel über den Literaturherbst

Unheimlich gut geschrieben

Benjamin von Stuckrad-Barre | © Photo: Alciro da Silva

Mit seinem neuen Roman »Noch wach?« ist Benjamin von Stuckrad-Barre zur Göttinger Frühjahrslese in seine Heimatstadt gekommen. Kerstin Kratzsch hat die Lesung in der ausverkauften Sheddachhalle für das Kulturbüro besucht.

Der Himmel ist blau und die Luft noch warm von den Sonnenstrahlen des Frühlingstages. Aus allen Richtungen strömen Menschen der Sheddachhalle entgegen, Autos rollen langsam in beiden Richtungen vorbei am Veranstaltungsort auf der Suche nach einer freien Parklücke. Vor der Halle verweilen einige Gäste noch im Sonnenschein und warten auf Begleiter:innen, Eintrittskarten in der Hand, während die meisten Zuschauer:innen sich schon vor dem Eingang drängen, um das Innere der Halle zu betreten, deren lichtes luftiges Dunkel sich bis auf den letzten Platz füllt.

In gespannter Vorfreude erwartet man den Auftritt von Benjamin von Stuckrad-Barre, Journalist, Moderator und Autor zahlreicher Romane. Sein neuestes Werk »Noch wach?« wird er an diesem Abend vorstellen. Dieser Auftritt kündigt sich an. Untermalte zunächst belanglose Popmusik die Szenerie, wird die Musik nun erheblich lauter, dissonant, spannungsvoll. Streicher, ein quälendes Quietschen, die Musik kippt mit dem Erscheinen des Autors in Falcos »Out of the dark«.  Von Stuckrad-Barre betritt die Bühne großartig wie ein Rockstar, will sich im aufbrandenden Applaus sonnen, reckt die Arme nach oben, Siegerpose. 

Nachdem der Applaus abgeklungen ist, erwartet die Zuhörer:innen nun eine besondere Lesung. Für Benjamin von Stuckrad-Barre ist der Vortrag in Göttingen ein Heimspiel. Er hat viele Jahre als Pastorensohn in Göttingen verbracht, dort das Gymnasium besucht und seine ersten Schritte als Journalist für Göttinger Kulturmagazine gemacht. Seine Lesung ist deshalb auch in gewisser Weise eine Hommage an seinen vor zehn Jahren verstorbenen Mentor Christoph Reisner. Dem Kulturschaffenden und Begründer des Göttinger Literaturherbstes möchte er eine Erinnerungstafel gewidmet wissen. Seinen Werdegang, erzählt er, habe Reisner maßgeblich beeinflusst, er verdanke ihm vieles.

Immer wieder kommt Von Stuckrad-Barre auf Begebenheiten seiner Göttinger Jahre zurück unterhält das Publikum mit Erzählungen und einer Menge humorigem Lokal-Kolorit, Seitenhiebe auf Burschenschaftler und den Calvör-Buchladen, den man keinesfalls ohne Studium betreten dürfe.

Benjamin von Stuckrad-Barre beweist in seiner Lesung ein großes komödiantisches Talent. Mit der Ironie eines Kabarettisten kommentiert er den eigenen Roman, den er zunächst als Corona-Tagebuch vorstellt, in Jogginghose geschrieben als „das richtige Buch für die kommenden Sommermonate“, dann als rührselig absurde Geschichte eines Ehepaars, Claudia und Olaf, auf einer Frankreich Reise, die mit Olafs Tod endet, der „noch einmal das Meer sehen“ möchte, worauf Claudia erwidert: ja dann schau doch hin (Idiot).

Indes, keine dieser Geschichten taucht in dem Buch auf. Der Angelpunkt des Romans »Noch wach?« ist das Veröffentlichen der sexuellen Nötigungen und Vergewaltigungen junger Frauen durch Filmproduzent Harry Weinstein, der sich durch die MeToo-Bewegung zu einem Skandal gewaltiger Tragweite auswuchs. Es bleibt jedoch nicht bei einem Gespräch mit Rose McGowan, einer der ersten Frauen, die ihre sexuelle Belästigung durch Weinstein öffentlich machte an einem Pool in L.A.. Von Stuckrad-Barre schlägt den Bogen seiner rein fiktiven Geschichte weiter. Und hier taucht nun der Chefredakteur einer deutschen Medienanstalt auf, der gleichermaßen junge Frauen, angehende Journalistinnen und Schauspielerinnen in seiner Machtposition als entscheidende Instanz über Erfolg oder Scheitern, sexuell belästigt und benutzt.

Der Roman ist ein Angriff auf derartige patriarchale Machstrukturen, der über sehr ausführliche intime Gespräche, die der Protagonist mit einer Vertrauten führt, Ängste, Schwierigkeiten, aber auch Mut und Intelligenz von Frauen in der Medienbranche offenbart. Das ganze Ausmaß des durch sexuelle Gefälligkeiten teuer bezahlten Ruhmes. Auch nachfolgende Depressionen und Drogensucht werden als dem Medienbetrieb zugehörige Ingredienzien nicht ausgespart. Bezeichnenderweise beginnt der Roman im Schlick und Dreck der Baustelle eines neuen Firmengebäudes im Auftrag der Film- und Fernsehbranche. 

Es ist ein feministischer Roman, den Benjamin von Stuckrad-Barre verfasst hat, eine Anprangerung von Machtmissbrauch, Träumen und Ernüchterung, ein direkter Angriff auch auf die rein fi(c)ktiven Medienschaffenden, die hier auftauchen. Dies beteuert der Autor wiederholt und spart während der Lesung auch nicht mit Eigenlob – verweist immer wieder darauf hin, dass das Buch unheimlich gut geschrieben ist, wirklich unheimlich gut. Interessanterweise wirkt das überhaupt nicht arrogant, sondern sehr komisch.

Der Autor liest ganze Kapitel aus einem Buch vor, kommentiert mit Witz, kehrt immer wieder auf humorige Geschichten seiner Erlebnisse in Göttingen zurück und fühlt sich sichtlich wohl in seiner Rolle als Entertainer in der Stadt, in der er lange gelebt und seine Karriere begonnen hat. Der langanhaltende Applaus am Schluss der Lesung verrät, dass es dem Autor gelungen ist, die Herzen des Publikums zu erreichen.

Nach mehr als zwei Stunden, verlässt man die dunkle Halle in der Dämmerung, beschwingt und in der Gewissheit, einen unterhaltsamen, lustigen Abend verbracht zu haben und hat Lust „Noch wach“ zu bleiben, um von Stuckrad-Barres Buch zu lesen.

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Kerstin Kratzsch

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