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Artikel über das Kunsthaus Göttingen

Blickt er's noch?

Wie in Stein gemeißelt: Jan Philipp Reemtsma, links daneben: Gerhard Lauer © Jan Hendrik Buchholz

Ist das Absicht? Warum gerade dieses Kapitel? Über 600 Seiten hat Jan Philipp Reemtsma über Christoph Martin Wieland vollgeschrieben, eng bedruckte, wohlgemerkt. Zum Vortrag bringt er am 4.11.2023 im – natürlich vollbesetzten – Alten Rathaus gerade einmal dreieinhalb davon.

Zum Gegenstand haben sie: ein Gespräch zwischen dem „Erfinder der modernen deutschen Literatur“ – als welcher Wieland dem Untertitel der Biographie und dem Wunsche ihres Verfassers nach zu urteilen gelten muss – und keinem geringeren als Napoleon Bonaparte. Im Oktober 1808, im Tanzsaal des Weimarer Schlosses. Ganz zufällig oder gar freiwillig, lässt der Redaktionsleiter des Teutschen Merkur selbst uns in seinem Briefwechsel wissen, passiert dies keineswegs. Im Gegenteil hat er, der inzwischen immerhin 73-jährige, „unter Vorschützen meiner Gesundheit“ sich davor zu drücken versucht. Jedoch vergeblich: Zu groß ist die Begierde des selbstgekrönten französischen Kaisers, den Mann kennenzulernen, der seinen Aufstieg prophezeit hat.

An dieser Begegnung nun interessiert Jan Philipp Reemtsma ganz offenkundig eines: wie hier zwei Angesehene sich ansehen. Zitat: „Das mit dem Blick ist eine simple Angelegenheit. Mächtige gewöhnen sich zuweilen an, ihre Gegenüber intensiver anzusehen, als es im persönlichen Miteinander Brauch ist, und es findet eine einfache Projektion statt: Der so im Machgefälle Angeblickte fühlt sich ‚durchschaut‘, er meint, das Gegenüber sehe, was der Angeblickte meint zu sein.“ Man hört diese Zeilen. Man liest sie zuhause vorsichtshalber noch einmal nach. Und man versteht auf einmal so vieles.

Man versteht, warum der Sohn und Enkel eines Zigarettenproduzenten seine bezaubernde Anmoderatorin keines und seinen „Gesprächspartner“ Gerhard Lauer – immerhin Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, der sich allerdings von vornherein und frappierend freiwillig entschieden zu haben scheint, die Rolle des servilen Stichwortgebers zu spielen (wenn Reemtsma doch bloß mitspielen würde!) – kaum eines Blickes würdigt. Man versteht, warum er so ernst, ja: verdrießlich dasitzt. Schier wie in Marmor gehauen, würde er sich nicht zum Verschränken der Arme als Geste der maximalen Ablehnung hinreißen lassen. Ganz so, als müsse er die Fragen nicht beantworten, sondern ertragen. Erst unterstellt man einen schlechten Tag, dann vergleicht man mit dem Autorenporträt unterm Klappentext und denkt: „Nee, der guckt anscheinend immer so.“ Das ganze gewollte Gefälle zwischen Bühne und Reihe eins verdichtet sich in der abschließenden „Einladung“ Lauers, Professor Reemtsma habe sich bereit erklärt, sein Buch vor Ort zu signieren. Andere lassen sich gern darauf ein, lassen es bei der Gelegenheit vielleicht so richtig krachen – Professor Reemtsma lässt sich herab. Darum erneut die Frage: Warum gerade dieses Kapitel? Und gleich noch eine hinterher: Was, Herrschaftszeiten noch einmal, meint Jan Philipp Reemtsma zu sein?

Sicher: Er ist eloquent, blitzgescheit, sein halbstündiger Abriss des Wieland’schen Werdegangs gerät ebenso profund wie kurzweilig. (Seine Lehrjahre bei Johann Jakob Bodmer in Zürich? „Er merkte schnell, dass er besser war.“ Sein Ausnahmetalent? „Junge Menschen zu fördern, die nicht auf seinem Radar liegen.“ Über Heinrich von Kleist etwa orakelte Wieland, er sei dazu geboren, „die große Lücke in unserer dramatischen Literatur auszufüllen, die, nach meiner Meinung wenigstens, selbst von Schiller und Goethe noch nicht ausgefüllt worden ist.“) Zweifellos: Reemtsma zeigt Humor, wird oft genug erfrischend bissig. (Wielands Urteil über Goethe? „Er kann alles, was er will. Er will zu wenig.“ Clemens Brentano? „Tritt wie ein Beatnik in Oßmannstedt auf, die Gitarre auf dem Rücken.“) Dieses und jenes und noch einiges mehr ist Reemtsma allerdings mit Heerscharen von Privatdozenten gemeinsam. Was hat er allein?

Geld. Viel Geld. Reichlich genug, um die eigene, seit 30 Jahren betriebene Forschung zum nächsten großen Ding aufzublähen. Diese Tatsache soll den wohlverdienten Erfolg und den ehrenwerten Ertrag seiner Arbeit keineswegs schmälern. Aber womöglich hilft sie, ihn einzuordnen: Die deutsche Literaturgeschichte muss, allem dahingesagt-dahergeschriebenen Hype zum Trotz, wohl kaum Sorge haben, sie werde nunmehr umfassend umgeschrieben; endgültig verabschieden darf sie sich hingegen – in diesem Punkt folgt man Jan Philipp Reemtsma gern, denn das ist sein unbestrittener Verdienst – von der theleologischen Vorstellung, auf ein bestimmtes Ziel gerichtet zu sein: die Weimarer Klassik, vor der nichts wirklich war, und nach der nichts Wahrhaftiges mehr sein kann.

Ein Ziel hat man nichtsdestotrotz nach anderthalb Stunden ebenfalls. Man würde sich, wie weiland Wieland, so gern „die Freyheit“ nehmen, in diesem Falle also: schnellstmöglich ins Freie. Erstmal eine rauchen. Indes, die Logistik des Veranstalters durchkreuzt den Drang: Hinaus gehts lediglich Bühnenrechts, der Büchertisch steht an der gegenüberliegende Stirnseite des Saals. So schiebt sich das Publikum aneinander vorbei, ein zäher Strudel aus Fans und Fliehenden. Ja: Die Zahlen (vierte Auflage, erschienen ist es Mitte März!), der Zuspruch (nominiert für den Bayrischen Buchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik) sind eindeutig. Nein: Jan Philipp Reemtsma muss sein opulentes Werk nicht mehr verkaufen. Aber er darf ihm gern gerecht werden. Sonst wird, mit Verlaub, auch ein Professor schnell zum Popanz.

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