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Artikel über das Kunsthaus Göttingen

„Du literarisierst einen Film.“

In der Unschärfe: Daniel Kehlmann liest aus "Lichtspiel", Heinrich Detering hat Fragen dazu.

Daniel Kehlmann hat einen neuen Roman geschrieben. Ein Umstand, den das Feuilleton derzeit zum Ereignis erhebt wie sonst allenfalls noch „Hackney Diamonds“ von den Rolling Stones. Soviel sei verraten: im Falle von „Lichtspiel“ durchaus, durchweg berechtigt. Und nun sitzt er tatsächlich da, in der Göttinger St. Johannis-Kirche, deren Auslastung jeden Gemeindepfarrer abseits von Heiligabend wenigstens eine Todsünde neidvoll vergessen ließe, und eröffnet den 32sten Literaturherbst. Neben ihm sitzt Heinrich Detering, Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der hiesigen Uni, stellt schlaue Frage und sagt noch schlauere Dinge. Zum Beispiel dies: „Andere verfilmen Bücher. Du literarisierst einen Film.“

Die Rede ist von „Molander“, nicht allein der schieren Seitenzahl wegen der Höhepunkt des Buches. Hier verwebt Kehlmann einen erfundenen Film (der reale, indes verschollene Fall Molander wäre wohl kaum über das Mittelmaß hinausgekommen, war jedenfalls nicht das Kunstwerk, das seinem Schöpfer, dem Regisseur G. W. Pabst, hier angedichtet wird) mit einer erfundenen Begebenheit, die für den besessenen Protagonisten des Buches den moralischen point of no return markiert. Über weiteste Strecken der ersten Hälfte ist er ein „passiv Herumgestoßener“ (O-Ton Kehlmann), dessen Nein stetig schwächer wird. In Hollywood scheitert seine Verweigerung, ein schlechtes Drehbuch zu verfilmen, sowohl an der sprachlichen Barriere als auch an den Gepflogenheiten im vermeintlichen Filmparadies: Man lehnt, schlicht gesagt, einen Auftrag nicht ab. Als gebrochener Mann – buchstäblich, denn er ist von einer Leiter gestürzt… worden – steht er vor dem Reichspropagandaminister und vor der Wahl, in einen Pistolenlauf zu gucken oder durch eine Kameralinse, ob er also mit dem Rücken zur Wand stehen oder unermesslichen Ressourcen im Rücken haben will. Wie opportunistisch darf ein Künstler sein, um frei filmen, wie viele Gewissenskompromisse will er schließen, um kompromisslos Kunst produzieren zu können?

Die Antwort fällt eine ganze Zeit lang günstig aus – eben so lange, wie man die unschönen Konsequenzen ausblendet. Doch dann kommt es bei den Dreharbeiten in Prag zu einem personellen Engpass: Für die Schlüsselszene des Films muss ein Konzertsaal gefüllt werden, aber die versprochenen Soldaten werden kurzfristig kriegsbedingt abkommandiert. Pabst greift zum Äußersten, schlimmer: Er vergreift sich komplett. Er greift auf KZ-Häftlinge zurück. Der „rote Pabst“, dem man seines Talentes und erst recht seiner Gesinnung nach überall eine Karriere zutrauen würde, bloß nicht in Nazi-Deutschland, wird durch einen leidenschaftlichen Traum letztlich zum rigorosen Täter, der persönliches Werk über menschliche Würde stellt. Wie im Wahn schneidet er gemeinsam mit seinem Assistenten Franz Wilzek den Film, ihre Flucht aus der Stadt in letzter Minute inszeniert er dann vollends wahnhaft. Alles gelingt ihm, für jede gefährliche Wendung arrangiert er eine glückliche Fügung, die Realität selbst scheint sich von ihm in Szene setzen zu lassen. Dass die Filmrollen letztlich durch den abgeschmacktesten aller abgenutzten Agententhriller-Twists verloren gehen, weil zwei identisch aussehende Armeetornister im Zug nebeneinander stehen, kippt als bittere, aber darum nicht minder platte Pointe den ambitionierte Plot.

Die Anmutung eines „literarisierten Films“ durchdringt dabei die inhaltlichen Ebene bis weit in die stilistischen hinein. Kehlmanns Buch, vielleicht sein bester Trick, ist eine Aneinanderreihung von ebenso lesenswerten wie scheinbar abgeschlossenen Szenen; gleichwohl ergeben sie durch „ein Netzwerk von Bezügen und Anspielungen“ (Detering) ein kohärentes Ganzes. Es gibt, exemplarisch dafür ist die bereits erwähnte und in der St. Johannis-Kirche auch zum Vortrag kommende Audienz bei Goebbels, Anschlussfehler (bewusst gesetzte, natürlich). So, als würde Pabst im Geiste Varianten ein- und derselben Situation durchspielen oder ungeschnittenes Rohmaterial sichten. Befremdliche Risse in der Realität, für die Kehlmann eine weitere Deutung anbietet: „Es stehen nun in dieser Welt die Höllentore immer wieder offen.“

Diese Hölle erschafft Orte und Gestalten, die ein Friedrich Wilhelm Murnau kaum verstörender hätte auf die Leinwand bringen können. Tatsächlich flackert’s beim Lesen oft gefährlich vor dem geistigen Auge wie in einem Stummfilm der 1920er Jahre. Denn Lichtspiel, das ist das Uneindeutige, das „Changieren zwischen Hell und Dunkel“ (Kehlmann). Protagonist dieses Flackerns ist Jerzabek, Hausmeister auf Schloss Dreiturm, bei Rückkehr der Familie Pabst frisch zum NSDAP-Ortsgruppe Tillmitsch ernannt, was die Machtverhältnisse in der Residenz des Regisseurs zunehmend albtraumhaft verkehrt, ohne dass Jerzabek seine Servilität jemals vollends einbüßt.  Wie er bleibt alles uneindeutig, im Ungefähren. Und so wird „Lichtspiel“ letztlich (zum Glück!) keine einseitige Ehrenrettung eines in Ungnade gefallenen Genies seines Genres (zu seiner Zeit, neben Murnau und Lang, zweifellos das größte deutschsprachige) sondern ein sehr persönlicher Erklärungsversuch für einen an sich unerklärlichen Schritt: den eines unabhängigen Künstlers in ein totalitäres Regime. Vorgetragen mit der unprätentiösen Behutsamkeit desjenigen, der sich vollends seines Talents bewusst ist. Daniel Kehlmann hat einen neuen Roman geschrieben. Er ist ein Ereignis.

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Jan Hendrik Buchholz

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