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Deutsches Theater

Mentale Verwerfungen im gesellschaftlichen Miteinander

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»Im Dickicht der Städte« – Brechts dramatisches Duell in der Inszenierung von Katharina Ramser
von Tina Fibiger, erschienen am 01. Mai 2023
Volker Muthmann, Ronny Thalmeyer, Florian Eppinger, Gerd Zinck, Paul Trempnau, Anne Hoffmann in »Im Dickicht der Städte« | © Photo: Thomas Müller

Vorhänge aus Papierbahnen bilden ein Dickicht, das sich immer wieder über die einzelnen Kampfschauplätze senkt. Schon im Bühnenbild von Ute Radler gibt kein Ort Halt, weder die Familienenklave mit dem riesigen Bettgestell für alle noch das geschäftliche Treiben und die Bar, in der der sexuelle Fleischmarkt boomt. Trotzdem kommt es überall zu folgenschweren Begegnungen und nicht immer so scheinbar zufällig wie in der Leihbibliothek von C. Maynes, Der Holzhändler Shlink (Christoph Türkey) will sich die Meinung des Angestellten George Garga (Paul Trempnau) erkaufen. Der will sich weder mit Geld ködern noch in seiner armseligen Existenz bedrohen lassen und stellt sich dennoch der Provokation. Berthold Brecht verwickelt das gegensätzliche Paar in einen Kampf, in dem es bald einzig und allein um Strategien im täglichen Überlebenswettbewerb „Im Dickicht der Städte“ geht. Am Deutschen Theater inszenierte Katharina Ramser Brechts dramatisches Duell, das beiden den Sieg verweigert. 

„Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes“, notierte Brecht in seiner Vorbemerkung zum »Dickicht der Städte« und setzte auch mit der Aufforderung „Beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner“ ein demonstratives Zeichen. Das betonen zunächst die Videosequenzen von Thomas Bernhard, die Brechts exzessive Sprachbilderflut immer wieder erden. Fast scheint es, als ob die roten Boxhandschuhe von Vito Rana die Leinwand durchdringen, der sich in den nachfolgenden Sequenzen für den Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner rüstet.

In der Rolle des vermeintlichen Loosers kann Paul Trempnau zunächst Sympathiepunkte für seine Figur verbuchen. Die steht jetzt ohne Job auf der Straße, die Familie verliert ihren Ernährer und Freundin Jane (Anne Hoffmann) und taucht in die unterhaltsamere Halbweltszene ab. Da kann Christoph Türkay sich noch so smart und souverän geben. An seiner Figur haftet die vernichtende Macht des Kapitals, die stets ein Aufgebot an Strategien, Tricks und Tücken ahnen lässt. Dieses Arsenal hat allerdings auch sein Gegner schnell auf Lager, so dass sich eine mögliche Parteilichkeit zu seinen Gunsten schon bald verbietet. 

Das Kräftemessen findet ohne Rücksicht auf Verluste statt und ohne eine Spur von Empathie. Auch Fragen von Moral und Anstand haben die beiden Kontrahenten aus ihrer Kampfzone restlos ausgeblendet. Was zählt ist der nächste Spielzug, der den Gegner trifft, egal ob er ihn verletzlicher macht oder nicht. Den Spielzügen haftet oft etwas Willkürliches und Unüberlegtes an, was Brecht in seiner Vorbemerkung bereits wie eine Warnung über die Motive dieses Kampfes anklingen ließ. Shrink gibt seine Holzhandlung bedenkenlos preis, genauso wie seine Seilschaft mit dem Schreiber Skinny (Ronny Thalmeyer), dem Zuhälter Collie Couch (Gerd Zinck) und dem Hotelbesitzer (Volker Muthmann). Ebenso bedenkenlos lässt Garga seine hilfsbedürftigen Eltern Mae (Andrea Strube) und John (Florian Eppinger) nicht nur materiell verkümmern, während sein Gegner jetzt mit emphatischen Gesten spekuliert und auch Gargas Schwester Marie (Tara Helena Weiß) verführt, ohne ihn ins emotionale Abseits der Betroffenheit drängen zu können.

In Katharina Ramsers Inszenierung lassen sich die zentralen Spielmacher weder für rationale Argumente und Kriterien haftbar machen noch für scheinbar emotional grundierte Spielzüge. Es ist einzig und allein der Kampf, der sie in diesem Dickicht von Chicago noch zum Leben verführt, auf der Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit, wie sie sich Garga ersehnt, oder der Hoffnung auf einem Moment von freundschaftlicher Nähe, nach der der ewige Gewinnspekulant Shlink schon so lange vergeblich hungert. Sie treiben im Grunde auch nur den Kampf auf die Spitze, dem sich alle anderen Figuren in diesem kapitalistischen Dickicht mehr oder minder hungrig, gierig und verzweifelt stellen müssen. Um einen möglichen Vorteil feilschen ist das Gebot der Stunde im alltäglichen Wettbewerb, lieber ausbeuten als sich ausbeuten lassen, um so den drohenden existenziellen Absturz hinauszuzögern, den die ökonomischen Machtverhältnisse diktieren. 

Wo Brecht seine dramatische Anamnese der Verhältnisse mit einem sprachgewaltigen Aufruhr verbindet, der sich nicht immer leicht entschlüsseln lässt, vertieft sich Katharina Ramser mit ihrem Schauspielteam vor allem in die mentalen Verwerfungen im gesellschaftlichen Miteinander. Auf der Bühne begegnen sich Einzelkämpfer, die sich mit Worten bedrängen und erniedrigen und in ihrer Körpersprache als unberührbar behaupten müssen. Dieser Druck lastet vor allem auf den Frauen im Überlebenskräftemessen, die wie Marie und Jane auf „Sex sells“ setzen und sich dennoch der Opferrolle verweigern. Mit einer Szene, wie sie Brecht vermutlich nie in den Sinn gekommen wäre, werden sie von Katharina Ramser von kämpferischen Literaturfrauen bestärkt. Tara Helena Weiß und Anne Hoffmann stürmen die Bühne mit dem gedruckten Arsenal von Sophie Passmann, Mithu Sanyal, Carolin Emcke, Virginia Woolf, Margarete Stokowski und weiteren unbeugsamen Kampfgefährtinnen, dass sie dem Publikum in den ersten Reihen vorübergehend aufdrängen, bevor sie sich wieder in das Überlebensdickicht stürzen, ohne sich von der patriarchalen Herrschsucht entmündigen zu lassen. Die wird die Verhältnisse weiter dominieren. Der vermeintliche Looser landet am Ende den entscheidenden Treffer und wird sich nicht mit der Rolle seines Gegners zufriedengeben und den Markt künftig noch viel seelenloser aufmischen.

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Tina Fibiger

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