Wir alle empfinden das Gefühl der Zeitknappheit. Sie ist in unserer Gesellschaft jeden Tag zu spüren und schränkt uns in unserer Freizeit stark ein. Was steckt hinter unserer Zeitnot, was hat diese mit Gerechtigkeit zu tun und wie können wir auf eine bessere Zeitkultur hinarbeiten? Mit diesem für unsere Gesellschaft essenziellen Thema beschäftigt sich die Journalistin und Autorin Teresa Bücker, Gewinnerin des NDR Sachbuchpreises, in ihrem Buch »Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit«. Am 7. Mai ging es im Alten Rathaus auf Einladung des Literarischen Zentrums Göttingen bei dem Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Luisa Lorenz, die in der Geschlechterforschung tätig ist, um dieses Buch, wobei eine spannende und informative Unterhaltung entstanden ist.
„Zeit ist Geld“. Dieses so oft gehörte Sprichwort bezeichnet Teresa Bücker als falsch. Zeit ist ein Machtmittel der Politik und um mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft und ein besseres Leben für alle zu schaffen, müssen wir uns fragen, wie wir die Zeit gerechter verteilen können. In Bezug auf Arbeitszeit bestehen kulturelle Normen, bei denen es als etwas Gutes aufgefasst wird, wenn über die eigenen Grenzen gegangen wird und viele Überstunden gemacht werden. Überlange Arbeitszeiten wirken sich jedoch schlecht auf unsere Gesundheit aus, vor allem in Berufen, die bereits mit Gesundheitsrisiken verbunden sind, wie zum Beispiel bei Dachdecker:innen. Eine neue Zeitkultur würde somit auch eine bessere Gesundheitspolitik ermöglichen.
Das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben, ist kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Die Zeit ist ungerecht in unserer Gesellschaft verteilt. Teresa Bücker weist daraufhin, dass neben der Erwerbsarbeit genügend Zeit gegeben sein müsste, um einen wirklichen Ausgleich zu haben. Es muss genug Möglichkeiten zum Sporttreiben, für selbstbestimmte und als erholsam empfundene Freizeit geben, sowie für die Care- und Hausarbeit. Bei vielen der großen Firmen ist die 4-Tage-Woche zwar ein aktuelles Thema und es wird mehr mit Arbeitszeiten herumexperimentiert, jedoch verflacht dieses Thema in der öffentlichen politischen Debatte.
Unsere Zeit setzt sich aus der Erwerbsarbeit, der (oft unbezahlten) Care-Arbeit und der Freizeit zusammen. Luisa Lorenz stellt Teresa Bücker die Frage: „Was ist überhaupt Freizeit?“ In der Zeitverwendungserhebung, die alle 10 Jahre in Deutschland durchgeführt wird, kommt heraus, dass Deutsche etwa 6 Stunden Freizeit täglich haben. An der Reaktion des Publikums ist zu merken, dass diese Statistik keinesfalls stimmen kann. Und so ist es auch: Teresa Bücker hat herausgefunden, dass die Aussage zur Freizeit fehlleitend ist, da das Wochenende mit einberechnet wird sowie alle kleinen Einheiten an freier Zeit, die fragmentiert über den Tag aufgeteilt sind, z.B. wenn kurz auf das Kind gewartet wird. Somit sagt die Studie keineswegs etwas über die Qualität dieser Freizeit aus. Oft ist diese nur fragmentiert oder findet am Ende eines anstrengenden Arbeitstages statt. Wie viel selbstbestimmte Freizeit bleibt da tatsächlich über?
Wenn Care- und Erwerbsarbeit zusammengerechnet werden, haben Frauen mit Kindern die längsten Wochenarbeitszeiten, die kürzesten haben kinderlose Männer. Obwohl die Care-Arbeit so wichtig und unverzichtbar ist, stellt die öffentliche Debatte sie trotzdem oft als verzichtbar dar. Jedoch sucht man sich Care-Arbeit nicht aus und man kann sie nicht einfach vernachlässigen. Viele Frauen nehmen zudem die Vereinbarkeit von Karriere und Kind als unmöglich wahr, in einer gerechten und freien Welt sollte dies aber kombinierbar sein. „Gleichberechtigung ist nicht mit der Vollzeitnorm möglich“, sagt Teresa Bücker. Momentan ist unsere Zeitkultur an der typischen Kleinfamilie orientiert, man dürfe aber nicht die Alleinerziehenden, Eltern von Kindern mit Behinderungen usw. außer Acht lassen. Viele Vollzeitlöhne schützen außerdem nicht vor Altersarmut, aber nicht jeder kann sich die Vollzeitarbeit und Überstunden leisten. Für eine funktionierende Gesellschaft sind des Weiteren auch Ehrenämter wichtig, vielen fehlt es dabei aber neben der Care- und Erwerbsarbeit an der nötigen Zeit, um sich engagieren zu können.
Teresa Bücker möchte mithilfe ihres Buches und der Lesungen die Menschen sensibilisieren und zum Nachdenken anregen. Dies scheint bei den Menschen sehr gut anzukommen: der Saal im Alten Rathaus war ausverkauft und anhand der Reaktionen im Publikum war zu erkennen, dass viele sich beim Thema Zeitnot wiedererkennen und von Teresa Bückers Analysen und ihrem Hinterfragen und Erklären von Statistiken begeistert waren.
Abschließend wurden auch die Zuschauer dazu eingeladen, Fragen zu dem Thema zu stellen, auf welche Teresa Bücker umfassend und reflektiert antwortete. Somit war es ein gelungener und äußerst interessanter Abend, bei dem die Zuschauer auch mitwirken und viel über die Zeitthematik lernen konnten.