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Deutsches Theater

Der Wahnsinn kommt ins Archäologische Institut

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Premiere »Nichts widersetzt sich der Nacht«
von Keanu Demuth, erschienen am 28. Mai 2023
© Manga von Keanu Demuth

Warum hat meine Mutter Selbstmord begangen? Um diese Frage dreht sich das Stück »Nichts widersetzt sich der Nacht«, welches am 26. Mai Premiere in der Sammlung der Gipsabgüsse vom Archäologischen Institut feierte. Die Schauspielerinnen Jenny Weichert, Tara Helena Weiß und Angelika Fornell machten sich die Kulisse der Gipsabguss-Sammlung vollkommen zu Eigen und stellten die gestörte Psyche der Mutter Lucile sehr schockierend und beeindruckend zugleich dar.

Mit schaurigen Lichteffekten sowie den pompösen, aber auch einschüchternd-starren Gipsstatuen brachten sie dem Publikum den Wahnsinn nahe, welches Lucile durchleben musste und schließlich um den Verstand brachte. Gekonnt kombinierten die Darstellerinnen Requisiten wie Scheinwerfer mit ihrem zerbrechlich-labilen Schauspiel. Eine wahnsinnig gute Performance, bei welcher sich so mancher Zuschauer am Ende vielleicht selbst fragte, ob er oder sie jetzt ein Stückchen verrückter geworden ist.

Die Premiere von »Nichts widersetzt sich der Nacht« unter der Regie von Schirin Khodadadian hatte sozusagen keine wirkliche Bühne, da die Schauspielerinnen die Besucher von einem Raum der Gipsabguss-Sammlung in den nächsten führten. Jeder Raum war mit prachtvollen aber auch zum Teil unfertigen und leblosen Statuen gefüllt und stellte einen Abschnitt aus Luciles Leben dar. Einer Engelsstatue fehlte zum Beispiel der Kopf, was besonders gut die kaputte Psyche von Lucile akzentuierte.

»Nichts widersetzt sich der Nacht« basiert auf den Roman »Das Lächeln meiner Mutter« von Delphine de Vigan, die ihre äußerst tragische und ebenso verstörende Familiengeschichte in diesem Werk verarbeitete. Autorin Delphine begibt sich nach dem Suizid ihrer Mutter auf Spurensuche durch die Vergangenheit ihrer Familie. Sie recherchiert, liest die Tagebucheinträge ihrer Mutter Lucile und redet mit Familienangehörigen. Aufgrund der Tragödie, die sich in ihrer Vergangenheit abgespielt hat, kann Lucile ihrer Verantwortung als alleinerziehende Mutter nicht mehr nachkommen und beginnt eine bipolare Störung zu entwickeln. Sie verliert das Sorgerecht und wird mehrfach in die Psychiatrie eingewiesen. Dem Anschein nach schafft sie dennoch den Weg zurück ins Leben. Die Autorin Delphine de Vigan empfindet die emotionalen Abgründe ihrer Mutter nach und schreibt eine zutiefst emotionale Hommage an eine außergewöhnliche Frau.

Angelika Fornell und Tara Helena Weiß spielten die Tochter der Verstorbenen, wohingegen Jenny Weichert die psychisch labile Mutter in jungen Jahren verkörperte. Allerdings kann man die Schauspielerinnen nicht allein auf diese Rollen beschränken. Alle drei Darstellerinnen stellten verschiedene Charakterzüge von Lucile dar, die an einer bipolaren Persönlichkeitsstörung litt. Eine clevere Idee, da sich die Darstellerinnen als unterschiedliche Persönlichkeitsabbilder Luciles manchmal gegenseitig angeschrien haben. Der innere Konflikt der Mutter konnte also brillant dargestellt werden. Außerdem wurde die Handlung vorangetrieben durch das Vorlesen von Luciles Tagebucheinträgen.

Das Stück startete auf sehr außergewöhnliche und merkwürdige Weise, da Angelika Fornell das Publikum als Mitarbeiterin der Gipsabguss-Sammlung begrüßte und den Herstellungsprozess der Gipsstatuen erklärte. Ohne irgendeine Ansage, dass das Stück jetzt startet, zeigte sie vor dem Eingang der Sammlung die Silikonform, in welcher der Alabastergips eingegossen wird. Einige der Zuschauerinnen und Zuschauer standen ganz verdutzt da und fragten sich sicherlich, ist das schon Teil der Aufführung? Und genau so war es: Noch während sie über die kleine Athene-Gipsfigur redet, stoppt Fornell aus Konzentrationsmangel ganz plötzlich und sagt schockiert mit weit aufgerissenen Augen „meine Mutter war blau, ascheblau.“ Dieser kleine Einstieg sollte zeigen, dass sich Delphine noch nicht ganz mit dem Selbstmord ihrer Mutter abfinden konnte und diesen praktisch verdrängt hat. Aber jetzt sei die Zeit gekommen, um über ihre Mutter zu schreiben, sagt Fornell mit traurigen und feuchten Augen. Die Trauer, welche die Theaterdarstellerin zusammen mit ihren Schauspielkolleginnen Weichert und Weiß vermittelte, fühlte sich einfach nur besonders glaubwürdig an und berührte die Zuschauer zutiefst.

Nichts widersetzt sich 900Der Wahnsinn kam schließlich ins Archäologische Institut als Jenny Weichert manisch lachend in den Raum rannte und schließlich am anderen Ende der Halle in der Dunkelheit verschwand. Hinter Angelika Fornell befand sich eine lange Halle, in welcher die ersten Statuen im Dunkeln zu sehen waren. Vom dunklen Ende der Halle hörten die Zuschauer das verrückte Gelächter von Weichert als Lucile. Zudem schreite sie mehrmals die Worte „ein schwarzes Baby.“ Da das Publikum nur die beinah pechschwarze Halle mit dem Lachen und Schreien hörte, wurde eine überaus schaurige und verstörende Atmosphäre kreiert. Als Weichert, Fornell und folglich auch noch Weiß aus dem Tagebuch vorlasen und entsetzt erzählten, wie Lucile von ihrem Vater betäubt und vergewaltigt wurde, war eindeutig Betroffenheit und Entsetzen bei den Zuschauerinnen und Zuschauern erzeugt. Mit den Worten „ich warte auf die Tragödie“ ging die Tour durch die Figuren-Sammlung erst richtig los. Je weiter die Zuschauer in dieSammlung der Gipsabgüsse vordrangen, desto weiter drangen sie auch in die Psyche und die Familientragödie ein. Die Gipsabguss-Sammlung war praktisch eine Allegorie für den Verfassungszustand und die Geschichte der Familie, einfach exzellente Dramaturgie. Das ungewollte Baby stirbt daraufhin und es folgt eine der schockierendsten und furchteinflößendsten Szenen des Abends: Alle drei Darstellerin stehen vor einer liegenden Statue mit Sockel, die einem Sargdeckel ähnelt. Während sie auf die Figur starren, ertönt ein eigenartiges Quietschen eines Babys oder einer Fliege. Diese Szene, zusammen mit dem seltsamen Geräusch, dass Weichert erzeugte, wirkte einfach nur düster und angsteinflößend. Weichert als Lucille kann daraufhin das traumatische Erlebnis nicht verarbeiten, stürmt weiter voraus und schreit, dass sie die „Flucht nach vorne“ wolle. Eine passende visuelle Darstellung bei welcher Fornell humorvoll antwortete „na dann müssen wir alle mit.“ Alle Besucher folgten den Darstellerinnen in die nächste Halle, in welcher es auf einmal komplett schwarz wurde. Mit kleinen Scheinwerfern flackerten Weiß, Fornell und Weichert und sorgten erneut für eine verrückte und schaurige Szene, in welcher sie Luciles emotionalen Abgründe weiter ergründeten. Bei der darauffolgenden Szene lief es den Zuschauern wirklich eiskalt den Rücken runter: Während im dunklen Figurenraum Weichert noch ihre Zeilen rezitiert, ertönen auf einmal von einer unbekannten Richtung die Worte „ich war 16, mein Vater hat mich vergewaltigt.“ Die Lucile-Darstellerin nimmt den Bluetooth-Lautsprecher daraufhin weg, so als würde sie wieder die grauenvollen Ereignisse verdrängen. Das plötzliche Ertönen des Bluetooth-Lautsprechers war sehr effektvoll und erzeugte eine schaudervolle Stimmung. Als die Darstellerinnen am Ende den Abschiedsbrief vorlesen wurde es sehr traurig und emotional, aber auch befreiend zugleich, da sanftes Vogelzwitschern während des Vorlesens gespielt wurde. Das Zwitschern erzeugte ein trügerisches Wohlgefühl, bei welchem man nicht so ganz wusste, ob man jetzt tatsächlich Schönheit verspürt oder doch nur Trauer und Fassungslosigkeit.

Das Deutsche Theater Göttingen führte im Archäologischen Institut ein Psychological-Horror-Theaterstück auf, welches seinesgleichen sucht. Mit der hervorragenden Performance von Jenny Weichert, Tara Helena Weiß und Angelika Fornell sowie der überaus beeindruckenden aber auch schaurig guten Kulisse konnte »Nichts widersetzt sich der Nacht« auf ganzer Linie überzeugen und das Publikum wahrhaft schockieren.

Keanu Demuth

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