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Corvinuskirche

Das auskomponierte Erfrieren eines armen Mädchens

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Kammerchor Hannover mit dem Konzert »Dunkelziffer«
von Keanu Demuth, erschienen am 29. März 2023
Mitglieder des Kammerchor Hannover | © Zeichnung: Keanu Demuth

Ein sehr emotionales und berührendes Konzert führte der Kammerchor Hannover am Abend des 26. März in der Corvinuskirche auf: Das Passionsprojekt »Dunkelziffer«. Im Mittelpunkt stand das Werk »The Little Match Girl Passion« des US-amerikanischen Komponisten David Lang, welches auf Hans Christian Andersens Märchen vom Mädchen mit den Schwelhölzern basiert. Gepaart wurde diese Geschichte mit der Matthäus-Passion.

„Es ist das auskomponierte Erfrieren eines armen Mädchens,“ so Pfarrer Ralf Drewes, der während des Konzerts theologische Betrachtungen mit dem Publikum teilte. „Das Leiden des Mädchens mit den Schwefelhölzern wird an Stelle Jesu gesetzt und ich hoffe ihr Kummer wird auf eine höhere Ebene empor gehoben.“ Der Komponist Lang sieht in Andersens Text eine religiöse und moralische Äquivalenz zwischen dem Leiden des armen Mädchens und dem Leiden Jesu.

Zusammen mit dem Kinderschutzbund Niedersachsen wurde das Projekt ins Leben gerufen. „Uns ist es wichtig zu zeigen, dass es Kinderarmut und -vernachlässigung mitten bei uns in Niedersachsen gibt,“ erklärte Christoph Schlechter, Leiter des Kammerchors. Schlechter kam erstmals während seines Studiums in den USA mit dem Werk in Berührung, als er David Lang als Kompositionsprofessor kennenlernte. Deshalb schlug der Chorleiter vor, Langs Komposition mit dem sehr aktuellen Thema der Kinderarmut zu verbinden, um das Publikum darauf Aufmerksam zu machen. „Durch die coronabedingte Schließung von Kitas, der Inflation und der Flüchtlingskrise hat sich die Lage vieler Kinder stark verschlechtert,“ erläutert Schlechter. „Das Thema Kinderarmut ist aktueller denn je. Benachteiligten Kindern und Jugendlichen muss geholfen werden.“ Juliane Moghimi, Sängerin im Kammerchor Hannover, äußert, dass sie die Trauer und Fassungslosigkeit beim Singen deutlich gefühlt habe. „Schicksale wie das des erfrierenden Mädchens bewegen, und es ist einfach das Schlimmste überhaupt. Ich hoffe, wir konnten dieses Gefühl, diese Trauer, mit unserem Gesang transportieren.“

Dies ist dem Chor zusammen mit dem Erzähler Wolfgang Scheiner mehr als geglückt. Bevor das Hauptwerk von David Lang präsentiert wurde, startete der Kammerchor mit zwei geistlichen Vokalmusikstücken, die den Zuhörer stimmungsvoll in die Glaube-Passion-Thematik eingestimmt haben: »Miserere« von Gregorio Allegri, eine berühmte A-cappella-Vertonung von Psalm 51 und Antonio Lottis »Crucifixus«. Der Chor wurde bei diesen Stücken aufgeteilt, vorne auf der Bühne waren die Hauptstimmen und hinter der letzten Reihe des Publikums wurde die andere Hälfte des Chors positioniert. Der Zuhörer war somit von dem Chor beinahe eingekreist. Dadurch gab es gleich zu Beginn ein sehr immersives Erlebnis für das Publikum. Zudem erzeugte das Spielen eines einzelnen Tons auf dem Xylophon eine nachdenkliche und gespenstische Totenstille. Nach den theologischen Bemerkungen von Pfarrer Drewes wurde dem Zuschauer ein weiteres Highlight präsentiert: Das Vorlesen des Märchens von Schauspieler Wolfgang Scheiner. Mit seiner besonderen Stimmfarbe, seiner Artikulation und dem Verstellen seiner Stimme las Scheiner Hans Christian Andersens tragische Geschichte eindrucksvoll vor. Indem der Schauspieler immer wieder die zarte und zerbrechliche Stimme des kleinen Mädchens imitierte, konnte das Publikum vollkommen in das Kunstmärchen eintauchen.

Anschließend trug der Kammerchor das Hauptwerk des Abends »The Little Match Girl Passion« vor. „Jetzt ist Passionszeit. Deshalb passt das heutige Passionsstück von Lang ziemlich gut,“ sagt Juliane Moghimi. „In den Kirchen wird in dieser Zeit meist die klassische Matthäus-Passion von Bach gespielt. Ich finde, dass sich Langs Stück ‚näher anfühlt‘ als die klassischen Passionswerke, da das Leid aus der Perspektive eines armen Mädchens dargestellt wird. Bei den klassischen Passionen hört man immer dieselben Worte. Lang bietet hier etwas Neues und sehr Bewegendes, welches wir dem Publikum näherbringen wollten.“ Dem kann man nur zustimmen. Der Chor aus Hannover konnte das Publikum mit »The Little Match Girl Passion« zu Tränen rühren durch seinen homogenen Klang und seiner ausgeprägten A-cappella-Tradition. Die Sängerinnen und Sänger präsentierten dem Publikum hier ein Passionskonzert mit frühbarocker und später Minimal-Musik und beeindruckten durch das Treffen von vielen hohen Tönen. Besonders die Tatsache, dass das arme Mädchen im Mittelpunkt der Arien stand, machte Langs Werk sehr zugänglich und der Zuhörer konnte sich somit gut mit dem Passionswerk identifizieren. Nicht ohne Grund wird »The Little Match Girl Passion« von The Guardian als eines der wichtigsten Musikstücke der letzten 23 Jahre gezählt. Auch der themenbezogene und bebilderte Begleitband sorgte dafür, dass das Passionsprojekt sehr erfrischend wirkte und dass der Rezipient noch tiefer berührt wurde. Passende Bilder visualisierten zusammen mit dem abgedruckten Gesangstext das Gehörte auf dramatische Weise. Außerdem passte die moderne Architektur der Corvinuskirche hervorragend zu dem neuartigen avantgardistischen Werk.

Allein die ersten Verse von „It was terribly cold,“ vereint mit den hohen weiblichen Gesangsstimmen, sorgten dafür, dass sich das Publikum wie an einem sehr fürchterlich kalten Neujahrsabend fühlte. Ein Neujahrsabend mit sehr bedrückender und beklemmender Stimmung. Außerdem kreierte in dem Abschnitt „Patience“ der geniale Einsatz einer Bremsscheibe eine einschüchternde Atmosphäre, da auf der Scheibe mit der Hand ein ungewohntes Geräusch erzeugt wurde. Interessanterweise war dies eine übriggebliebene Autobremsscheibe von Juliane Moghimis letzter Autoinspektion. Zudem akzentuierte das Leuten der Kirchenglocken während „Have mercy my God“ den religiösen Charakter von Langs Werk. Schließlich machte der Part „In the Dawn of Morning“ die Zuschauer fassungslos und sorgte sogar dafür, dass einige Leute vom Publikum Tränen vergossen: Kurze abgehakte Stakkato-Verse werden von den weiblichen Stimmen in hoher Lage rezitiert, die beschreiben, wie im Morgengrauen der leblose steife Körper des erfrorenen Mädchens vorgefunden wird.

Der Kammerchor Hannover sorgte an diesem Sonntagabend in der Corvinuskirche für ein sehr bewegendes und immersives Musikerlebnis: Erneut konnte der Chor seine herausragenden Gesangsfähigkeiten präsentieren und verknüpfte dies mit Hilfsmitteln und dem „Hörbuch-ähnelnden“ Vorlesen von Wolfgang Scheiner. Ein sehr emotionales Konzert, dass dem Publikum das Thema Kinderarmut sehr emotional nahebrachte und für viel Kopfkino sorgte. 

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Keanu Demuth

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