Am Samstag Abend fanden sich viele Figurentheaterfreunde und -freundinnen im Alten Rathaus ein, um im ersten Theaterstück für Erwachsene der diesjährigen Figurenspieltage der Frage nachzugehen: Wo steht die Menschheit und wo geht die Reise hin? So der Untertitel des Stückes »Deus Rising« vom Theater Blaues Haus in Krefeld.
Eingeläutet wurde der Abend von Marie Gottschalck als neue Organisatorin der Figurentheater-Tage. Rosi Brauns gab als ehemalige Leiterin einen kurzen Rückblick auf die vergangenen 40 Jahre des Figurentheater Festivals. Danach konnte das Spiel beginnen.
Hat der Mensch durch Fortschritt, Technologie und Wissenschaft gottgleiche Fähigkeiten erlangt? Prädestinieren ihn sein Handeln und das Gestalten der Welt, seine Möglichkeiten zu schaffen und zu zerstören dazu, einen Platz im Rat der Götter einzunehmen? Dieser Frage nähert sich das Theater Blaues Haus in seiner Inszenierung »Deus Rising – Sterben lernen im Anthropozän«, die sich durch ein Feuerwerk an gestalterischen Ideen, Licht, Farben und Schatten, erstaunlichen Figuren, dem künstlerischen Einsatz von Projektionen und tiefgründiger inhaltlicher Komplexität auszeichnet.
Die Frage zu klären, ob Mensch Mann und Mensch Frau als Abgesandte stellvertretend für die Menschheit in den Rat der Götter aufgenommen werden sollen, obliegt natürlich den Göttern. Es erscheinen aber zunächst nur zwei der von Götterbote Hermes herbeigerufen Gottheiten zu einer Abstimmung in der von Gott Thor als Vorsitzendem präsidierten Ratsversammlung: die hinduistische Göttin Kali, die Schwarze, Göttin der Zerstörung und Erneuerung, der Transformation, und der Gott Quezalcoatl, leuchtend schwarze Federschlange, verehrt durch Maya und Azteken als Schöpfergott und Herrscher des zweiten Weltzeitalters. Entsprechend des mythologischen Namens erscheint Quezalcoatl als riesige Schlange von extremer Länge, Göttin Kali als verrucht wirkende überdimensionale blauschwarze Frauengestalt, während Thor halb Baumstamm, halb Felsen gleicht, mit Klappmaul und rot funkelnden Augen. Ergänzt durch Götterbote Hermes, einer kleinen windigen, goldbeflügelten Stabfigur ist das Ensemble der Götter damit komplett. Von einer von diesen Gottheiten erstellten Liste weiterer einzuladender hinduistischer, ägyptischer, griechischer, römischer, nordischer, altertümlicher Götter erscheint niemand.
Es werden zur Entscheidungsfindung nun zuerst Mensch Mann und Mensch Frau aufgefordert darzulegen,was die Aufnahme in den Rat der Götter rechtfertigen soll. Die Erklärungen von Mensch Mann stützen sich auf technologische Errungenschaften im Bereich der Medizin und des Transports, enthalten aber auch paradoxe „Erfolge“ wie die vom Menschen erreichte Veränderung des Weltklimas. Mensch Frau verweist auf die Fähigkeit des Menschen Zukunftsvisionen zu entwickeln, um die Gegenwart gestalten zu können und hebt die Bedeutung von Hoffnung und Mitgefühl hervor. Es scheint die Zusammengehörigkeit von Körper und Emotionen auf, gewissermaßen das Dilemma der conditio humana.
Im weiteren Verlauf der Inszenierung werden die technischen, medizinischen Erkenntnisse der Menschheit genauer unter die Lupe genommen wie beispielsweise die Genforschung und in die Zukunft extrapoliert, was in Ideen mündet, wie der
Möglichkeit, Stammzellen zu kreieren, Körperteile zu erzeugen, Psyche und Emotionen zu kontrollieren und zu steuern. Insgesamt zielen die Erkenntnisse vielmehr auf die Überwindung anstelle der Optimierung des menschlichen Daseins ab. Aufgezeigt wird auch immer wieder das destruktive Potenzial menschlichen Verhaltens und dessen Folgen: Artensterben, Pandemien, Umweltzerstörung, Kriege, Klimawandel, Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Mensch Mann allerdings gefällt sich in der Idee, mit all dem umgehen zu können. Er spricht vom Anthropozän, der Einläutung eines neuen geologischen Erdzeitalters, einer vom Menschen bestimmten und gestalteten Ära der Weltgeschichte. Auf Grundlage der zunehmenden „Entzauberung der Welt“ mag nun nicht allein der Mensch sich gottgleich fühlen, er bedarf des Gaubens an die Götter nicht mehr und es kommt zu einer Gefährdung der Existenz der Gottheiten selbst, da sie aus dem Bewusstsein der Menschen entschwinden und gleichsam aufhören zu sein. Dieses Spannungsverhältnis charakterisiert die Inszenierung. Mensch und Götter ringen miteinander. Kali verhöhnt die Menschen in Chanson-Nummern und möchte die Welt der Menschen ins Chaos stürzen. Quezalcoatl umschlängelt Mensch Mann und Mensch Frau und schwelgt in Erinnerungen an ein Dasein als grausamer Gott, stirbt aber zuletzt in der Erkenntnis des eigenen Todes, der daraus resultiert machtlos, vergessen und aus dem Bewusstsein der Menschheit geschwunden zu sein und dadurch quasi keine weitere Daseinsberechtigung oder -form mehr zu haben. Anstelle der einstigen Götter sind, so wird Ratsvorsitzender Thor unterrichtet, neue Götter getreten wie zum Beispiel social media oder der freie Markt, der auf einem Bildschirm als quasselnde Influencerin mit großer Ähnlichkeit mit Barbie auftaucht.
Schließlich entreißen die Menschen den Göttern die Macht, schlicht indem sie diese nicht mehr benötigen und deren Macht nicht anerkennen. Der Mann enttarnt die Götter und ihr Dasein als bloße Fiktion, Technik, Figuren ohne Leben. Daran ändern auch die Nornen als Weberinnen des Schicksalsfadens nichts mehr, die als korallenartige Wesen aus verkleidetem Lüftungsschlauch am vorderen Bühnenrand erschienen sind. Die Membran, die göttliches und weltliches trennt, wird zerrissen. Zurück bleibt die Menschheit, eine äußerst kunstvoll gestaltete Großfigur, die ausnahmslos aus Menschengesichtern besteht. Gesichter mit unterschiedlichstem Ausdruck. Schwankend lässt sich diese Menschheit auf dem Thron der verschwundenen Götter nieder. Umgeben von einer gestaltlosen Leere, die keinen Zauber, nichts göttliches mehr kennt.
Stella Jabben und Volker Schrills mischen gekonnt verschiedene Darstellungsformen, illustrieren Aussagen durch überraschenden Einsatz von Overhead-Projektionen, treten zugleich in persona als Menschen auf und leihen den Götterfiguren ihre Stimmen. Unterschiedliche Führungs- und Bewegungsformen der ausdrucksstark gestalteten Figuren verweben sich zu einem Reigen unterschiedlichster Stimmungen. Unterstützt werden diese durch die musikalische Untermalung und den Einsatz strahlender Beleuchtungsfarben. Das Stück ist dabei von einer großen Informationsdichte geprägt und bietet Raum für eigene Interpretation. Unter der Regie von Nils Voges ist ein Stück entstanden, das zu individuellen Denkprozessen einlädt über unser Menschsein und unser Wirken auf dieser Welt und wieder zurückführt zu der Frage: Wo steht die Menschheit und wo geht die Reise hin?