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Junges Theater

Geschichten in den Mauern

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Premiere von »»Heimsuchung« nach dem Buch von Jenny Erpenbeck
von Tina Fibiger, erschienen am 04. September 2025

Hundert Jahre deutsche Geschichte spiegeln sich in Jenny Erpenbecks Roman »Heimsuchung« – und nun in der Bühnenfassung von Nico Dietrich und Tobias Sosinka am Jungen Theater. In berührenden Episoden verwebt das Ensemble Biografien, Bruchstücke und Erinnerungen zu einem Mosaik aus Verlust, Flucht und Sehnsucht, das im Wandel der Zeiten Spuren hinterlässt.

 

Die Geschichte von Kriegen, Verlusten und verletzlichen Sehnsüchten hat an dem früheren Gutshof und auch in der Landschaft ab einem märkischen See ihre Spuren hinterlassen. In den Mauern so sehr wie in den sichtbaren und den unsichtbaren Hinterlassenschaften der Bewohner:innen, die Jenny Erpenbeck in ihrem Roman »Heimsuchung« verwebt. Es sind biografische Bruchstücke und disparate Gedankensplitter, an denen sich auch die Bühnenfassung orientiert, die in der Inszenierung von Nico Dietrich und Tobias Sosinka am Jungen Theater Premiere hatte. In Lebensläufen und ihren Verwerfungen spiegelt sich auch die Chronik über einen Zeitraum von 100 Jahren und den zerstörerischen Zumutungen in bewegenden Momentaufnahmen. 

Auf der Bühne öffnet sich ein breites Tor aus Holzlatten. Jahreszahlen werden eingeblendet, manchmal auch Hinweise auf Verwandtschaftsverhältnisse. Sie geben mitunter Orientierungshilfe, weil sich die Bühnenerzählung ähnlich wie der Roman einer chronologischen Zeitachse verweigert. Ereignisse, die sich in den Jahren der Weimarer Republik abgespielt haben, kollidieren mit Momentaufnahmen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Gründung der DDR, um erneut die NS-Zeit zu fokussieren oder die Atmosphäre vor und nach der Wende. Die Besitzverhältnisse wechseln ebenso wie der gesellschaftspolitische Kontext, der immer wieder Bewohner in die Flucht oder ins Exil treibt und andere in ihren Macht- und Erfolgsvisionen antreibt, wie sie sich mit den jeweiligen Verhältnissen umso profitabler arrangieren.

Profitabel sondiert schon der Gutsbesitzer die Verhältnisse. Nachdem sich für keine seiner vier Töchter keine gewinnbringenden Eheversprechen bilanzieren ließ, verweigert er ihnen auch das Erbe. Auf dem parzellierten Gelände richtet sich mim ein Architekt mit seiner Gattin komfortabel ein und das auch mit komfortablen Seilschaften, die ihm das NS-Regime offeriert. Er macht auch sein Schnäppchen bei der jüdischen Nachbarschaft und einer Tuchmacherfamilie, der trotz Ablasshandel fast alle Fluchtwege versperrt bleiben. Er wird sich später unter den neuen politischen Verhältnissen mit dem Mehrwert dieses Ablasshandels arrangieren und beruflich weiter solvent bleiben. Die frühere Heimat rechnet sich auch für die Schriftstellerin, die nach ihrem Moskauer Exil ihre sozialistische Gefolgschaft erfolgreich bekundet.

Makler, Besucherinnen, unberechtigte Eigenbesitzerinnen, Unterpächter und Verwandte von früheren Bewohner:innen sind ebenfalls in diese Ereignislandschaft involviert, der sich das JT-Ensemble in wechselnden Rollen stellt, um jeder Figur mit viel Empathie zu begegnen. Und das auch immer wieder in berührenden Nahaufnahmen, für die Nico Dietrich und Tobias Sosinka in diesem Episodenreigen besonders hellhörig machen. Für den einsamen Monolog von Doris (Malin Kraft), die den Transport in das Warschauer Ghetto Revue passieren lässt, das Erschießungskommando in einer trostlosen Landschaft und wie gern sie Klavier gespielt hat. In ein ebenso schmerzhaftes wie wütend verzweifeltes Duell begeben sich Thyra Uhde und Fynn Knorr. Die Architektengattin verweigert sich der Vergewaltigung, zu der sich auch der Rotarmist nicht bekennen will, weil ihn die alptraumhaften Erinnerungen an unerträgliche Kriegsexzesse fluten.

Auch Jan Reinartz, Agnes Giese, Jens Tramsen und Vivien Hübke werden immer wieder zu teilnehmenden Beobachtern, die die Situation befragen, in der sich ihre Figuren in dieser Momentaufnahme gerade befinden. Sie alle, wie sie sich empören, schachern und verhandeln, sich wohnlich einrichten, auf ein beschützendes Heim vertrauen, darin aufbegehren oder mutlos verzweifeln beobachtet wiederum Götz Lautenbach in der Rolle des Gärtners. Er verweilt an ihrer Seite wie ein stummer Chronist der Ereignisse, der nicht erklärend eingreift und nur auf Jahreszeiten und Jahreszahlen deutet und auf den Naturkreislauf, in dem die menschlichen Heimsuchungen weiter zirkulieren. 

Nico Dietrich und Tobias Sosinka vertrauen in der Bühnenfassung, die sie aus der Bühnenfassung von Tanja Weidner kondensiert haben, auf die erzählerische Kraft von Jenny Erpenbeck und ihre Sprachbildern und haben viele Dialoge mit beschreibenden Romanpassagen verwebt. Die biografischen Bruchstücke mit den reflektierenden Gedankensplittern, die sich an den politischen Umbrüchen und ihren Folgen reiben, haben unmittelbar anschauliche und nachhaltig berührende Wirkung: Um in eine Vergangenheit von 100 Jahren hineinzulauschen und dabei auch den leisen Stimmen zu begegnen, die das Zeitkolorit einfärben und vertiefend erfahrbar machen, ohne dass es dabei zu einer analytischen Expertise kommen muss. Es geht um die erhellende Wirkung, die sich an diesem Theaterabend weniger über historische Fakten erschließt, sondern vor allem über die mentalen Ablagerungen, die sie hinterlassen haben und die immer wieder erkundet werden wollen. Zum Abriss freigegeben ist am Ende nur das Gebäude, nicht aber sein Innenleben mit den Geschichten, die noch lange an den entsorgten Trümmern haften bleiben, ohne zu erodieren.

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